Unverstanden in einem verlierenden Land

Für die Griechenlandreise werden zwei Kapitel eingerichtet. Im ersten Teil dieser Reise erleben wir den Touristen M in politisch-diplomatischer Mission in Athen. Wir erleben ihn im Frühjahr 2015 auf dem Höhepunkt der finanzpolitischen Krise zwischen der EU und Griechenland. M erlebt die Situation wie ein Kolonialist und filtert alle Informationen, die er erhält, als Bestätigung der alternativlosen Richtigkeit der Politik des Finanzministers. Eine kritische Ebene wird durch die touristische Begleitperson Tobias eingebaut, mit allen Attributen der Sympathie ausgestattet. Seinem Charme und seinen perfekten Fähigkeiten in der Betreuung kann sich M nicht entziehen, aber es knistert von Anfang an der Begegnungen.

Fast wie eine Freundschaft beginnt ihre gemeinsame Zeit:

„Tobias hatte seinen PKW, einen alten Focus-Diesel, nahe am Ausgang postiert. Der weite Parkplatz war nur spärlich besetzt, ungewöhnlich für Parkplätze so nahe an dem Flughafengebäude. Tobias war eifrig um seinen Gast bemüht und erzählte ihm, wie es jetzt zur Unterbringung weitergehen würde. Über die Autobahn würden sie bis in den Bezirk Glyka Nera fahren, um dann über die Straße ins Zentrum zu kommen. M wohne in dem renommierten Hotel Electra Palace Hotel Athena, das nahe am Syntagmaplatz am Rande der Plaka liege. Bis dahin seien es 32 Kilometer. Noch bevor sie in das Auto eingestiegen waren, hatten sie sich verständigt, sich während der Reisezeit zu duzen. Unkompliziert und natürlich, wie Tobias war, fühlte sich M in seiner Gesellschaft sehr wohl. Im Auto nahm er sich die Krawatte ab.“

Der Dialog zeigt bereits auf der Hinfahrt in das Athener Hotel, wie unzureichend es ist, die Probleme in Griechenland allein mit den Abstraktionen deutscher Banker zu erklären. Tobias wirbt für den „sozialen Blick“, eine Perspektive, die M besonders schwer fällt:

„„Das soziale Problem ist einfach zu erklären“, meint Tobias. „Von den Krediten, die ihr vergebt, sehen die griechischen Normalbürger keinen Cent. Die kämpfen vielmehr mit enormen Einschränkungen und sind die Leidtragenden von Missständen und Versäumnissen, die sie gar nicht zu verantworten haben. Ihr tut so, als lebten die Griechen in Saus und Braus und lassen es sich wohl ergehen auf ihren Hängematten. Du wirst sehen, es ist leider anders. Schuld tragen korrupte Politiker, vor allem die der früheren Regierungen, und die reichen Steuerflüchtlinge. Sie sind von den Maßnahmen so gut wie nicht betroffen. Hier muss sich riesig viel ändern, wenn das Land wieder auf die Beine kommen will. Das wissen die meisten Griechen.“

Mit seinen Stadtausflügen gerät M an den Rand seines Vermögens, Wahrnehmungen und Denken in politischen Kategorien zu verbinden. Durch die alte Innenstadt geht M wie durch ein Schattenfigurentheater, veranstaltet von der Hölle:

„Viele Menschen, die er sieht, dauern ihn in ihrer Hilflosigkeit und in ihrem offensichtlichen Elend. Doch sieht er die nicht auch in Berlin, gehören sie nicht zu jeder großen Stadt in der globalen Welt? Er stärkt sich in der Auffassung, dass dieses traurige Schicksal einer Verliererschicht der Menschen nicht zum Instrument der Erpressung für eine Politik des Pumps auf Kosten anderer Länder gemacht werden darf. Das Bild seines Finanzministers im Rollstuhl geht ihm durch den Kopf und dessen Aussage, ein kühler Kopf sei jetzt wichtiger als ein heißes Herz. „Und dann noch die vielen Migranten und Flüchtlinge auf den Straßen“, sagt er zu Tobias. „Armut zieht Elend an, und der Strudel nach unten beginnt.“
Sie gehen durch die Sophoklesstraße.  Auf den Mauervorsprüngen oder schlicht auf dem Boden sitzen in den überdachten Arkaden Dutzende arabisch Aussehende und Schwarze oder ziehen unruhig hin und her. An einem kleinen Park verdichten sich die Menschen. Kostenlos wird dort Essen verteilt – von Menschen, wie Tobias anmerkt, die selber kaum noch etwas zu essen haben. Weniger Meter weiter gehen sie an einer langen Schlange vorbei. M sieht die erste Suppenküche in seinem Leben, in der die Stadt Athen die Ärmsten der Armen am Leben hält. Sie sind nicht weit, nur fünf Häuserblöcke von der Stadiou entfernt,  einer Prachtstraße Athens, in der die Banken, Konzerne und Ministerien ihre protzigen Gebäude haben. Das soziale Rückgrat in der Stadt sind die Nachbarschaften, erklärt Tobias das aggressionsfreie Treiben an diesem sozialen Brennpunkt, an dem die Katastrophe zu Hause ist und das Leben ohne einen einzigen Euro weiter gehen muss. „Würden die Griechen auf den Staat setzen wie in Deutschland, wäre das Land längst untergegangen“, meint Tobias und fügt hinzu: „Die Milliarden werden hier nämlich nie ankommen.““

Die schlimmen Erlebnisse sozialer Hilflosigkeit, die M in Athen erlebt, haben eine politische Konsequenz, übrigens die einzige im Roman. M verspicht „humanitäre Hilfe“ in einem eigenen Spendenprojekt. Auslösende Persönlichkeit für dieses Projekt ist der Arzt Georgis Vichas, der mit anderen in einer Baracke weit draußen in der Öde des Ehemaligen Flughafen Athen Ellenikon Kranke behandelt, für die im kommerziellen Versorgungssystem kein Platz mehr ist. Georgis Vichas wird wie folgt eingeführt:

„Der Empfang ist kühl, sachlich, ruhig, ohne griechisches Pathos. „Ich kultiviere hier auch meine in Deutschland erworbenen Eigenschaften, lächelt er und fängt sofort mit seiner sachlichen Berichterstattung an. Über 100 Patienten kommen zu uns täglich, eigentlich viel zu viel, um verantwortlich behandeln zu können. Früher war die medizinische Grundversorgung für die Griechen frei. Jetzt müssen sie 50 Prozent der Kosten selber tragen. Wer arbeitslos ist, bekommt nach einem Jahr keine Unterstützung mehr. Fast die Hälfte der Griechen ist in keiner Krankenkasse. Sie sitzen jetzt in der Falle. Kreditkarten nützen nichts, wenn kein Geld auf dem Konto ist. Apotheken geben keine Medikamente aus, ist das Konto nicht gedeckt. Krankenhäuser nehmen keine Patienten auf, wenn nicht im Voraus gezahlt wird. Praxisärzte behandeln nur diejenigen in den Warteräumen, die noch zahlen können.“
..... M ist von dem bescheiden auftretenden Arzt mit der ruhigen Stimme beeindruckt. Er zückt seine Geldtasche und möchte ihm einen 100 Euroschein überreichen. Vichas lehnt die Annahme ab. „Verstehen Sie es nicht als Arroganz, wenn ich Ihr Geld nicht annehme. Ich setze darauf, dass Sie das Wissen mit nach Hause nehmen, dass Sie helfen können. Starten Sie doch in Ihrem Wahlkreis eine Sammelaktion für Medikamente. Wir brauchen alles. Ganz besonders benötigen wir die Impfstoffe für Babys. Sie sind uns fast ganz ausgegangen.“ M verspricht, sich für das Einsammeln solcher Spenden stark zu machen. Zugleich merkt er, wie schwer es sein wird, in der aufgewühlten öffentlichen Stimmung in seinem Wahlkreis die Unterstützung für eine solche Aktion zu finden. Er wird sich Einiges einfallen lassen müssen.“

Tatsächlich wird M ein großes erfolgreiches Projekt starten, an dessen Ende M allerdings der wichtigere Bestandteil sein wird als die Hilfe selber. Seine ganze anspannende Aufmerksamkeit gilt in Athen dem verabredeten Gesprächstermin mit dem Pressesprecher er neuen Syriza-Regierung. Es geht also um ein vergleichsweise normales politisches Ereignis, für M aber ein Wettkampf zweier Politiker:

„Das „Villa Maximos“ genannte Gebäude liegt in der Irodou Attika Straße am großen Nationalpark hinter dem Parlamentsgebäude am Syntagmaplatz. Sie hätten vom Hotel aus zu Fuß laufen können. Doch Tobias bevorzugte das Auto, um die Schuhe nicht zu staubig werden zu lassen. Das Auto parkten sie nebenan um die Ecke in der Lykeios Straße, um nicht die Blicke der Staatsdiener in der Regierungsvilla auf dieses Schmuckstück von Auto zu lenken. Der Amtssitz von Alexis Tsipras wurde im neoklassizistischen Stil 1912 auf den früheren königlichen Gemüsebeeten gebaut. Sein erster Bewohner war Dimitrios Maximos, Gouverneur der griechischen Nationalbank. Die Stufen führen in den Eingangsbereich, dessen Dach sechs Säulen stützen, die beiden inneren im ionischen Stil. Ein roter Teppich führt in das Vestibül. Dort wartet bereits Gavriil Sakellaridis, der Sprecher der Regierung, auf sie. Die Begrüßung und der Händedruck sind herzlich. M lächelt freundlich, und nun gibt es doch einen hauseigenen Fotografen, dem M mit staatsmännischer Geste in die Blitzlichter zulächelt. Das geschieht am Donnerstag, den 9. April. Es ist genau 10.00 Uhr, wie das Foto fest hält, das M ausgeliefert wurde, als er zwei Stunden später den herrschaftlichen Amtssitz wieder verlässt.“

Das Rationale dieser Begegnung liegt darin, dass zwei Politiker dogmatisch ihre Positionen austauschen. Da ist nichts zu bewegen. M wird in diesem Wettstreit so beschrieben:

„Wenn es konkret wird, wird M unsicher, fühlt er sich unwohl. Seine politischen Linien werden aus Grundsätzen gezogen. Mit ihnen zieht er in die Auseinandersetzungen und genießt den Wettkampf, solange ihre Strahlkraft ihn beflügeln. Den Zahlenbeispielen von Tobias und ihren Schlussfolgerungen kann er nichts entgegensetzen. Die sind seine Sache nicht. Dafür gibt es Beamte und Direktoren. Wenn er jetzt trotzdem Tobias versöhnlich anlächelt, dann spricht daraus nicht unbedingt Bewunderung. Er ist vielmehr froh, seine Frage nicht dem Regierungssprecher gestellt zu haben, um von dem eine solche Antwort zu erhalten. Mit einer gewissen Befriedigung registriert er, seine diplomatische Rolle schon recht geschickt zu spielen. Er verabschiedet sich von Tobias in aller Freundlichkeit und bittet ihn, an diesem letzten Nachmittag in Athen noch etwas allein durch die Stadt ziehen zu dürfen. Morgen dann, nach dem Frühstück,  stehe er pünktlich an der Rezeption, bereit für die Fahrt in die Mani.“

Vorher ist M allein von der Aura der Stadt umgeben. Er hatte noch einen Abendspaziergang auf die Akropolis gemacht. In ihm verschmelzen der Mythos der Stadt und ihre Realität zu jener M eigenen Dämonie zusammen, aus der nur er seine Gefühle der Überlegenheit als politischer Durchstarter entwickeln kann. Das neue Thema hat er noch nicht, aber er ahnt, dass es ihm mit den göttlichen Kräften auf der Akropolis offenbart werden wird:

„Er fühlt sich der Antike nahe, den Göttern, Geistern, dem Treiben der Menschen mit Philosophen, Dichtern, Sehern, Wahrsagerinnen, Künstlern, Handwerkern, Mythen, Kriegen, Zerstörungen, endlichen Episoden inmitten der strahlenden geheimnisvollen Schönheit dieses Burgberges unter dem unendlichen Himmel der Geschichte über ihm. Die erhabenen Ruinen haben keine plakative Sprache und offenbaren nur den Eingeweihten ihr nie verstummendes Zwiegespräch mit den kosmischen Kräften des irdischen Geschehens. Zu den Eingeweihten zählt sich M. Erhaben über alle Versuche der Menschen, das kosmische Geschehen hier oben auf der Burgstadt für ihr kurzes Erdendasein auszubeuten, verliert sich M für Augenblicke in schwärmerischen Gefühlen über die Grenzen seiner Möglichkeiten, die Welt zu kennen oder gar zu beeinflussen. „Erkenne dich selbst“, wie es über dem Tempel von Delphi geschrieben steht, wo die Orakel gesprochen wurden, weil nur in Anwesenheit der griechischen Götter sich Gegenwart und Zukunft miteinander verbinden. M hätte sich gewünscht, diese antike Tiefe des Tempelberges würde auch heute noch über alle Mühen der Politiker strahlen. Aber da sind hier und jetzt wohl keine Götter, die ihre Zwiesprache mit ihm halten.“

Noch einmal kumuliert am Ende dieses Kapitels die Durchdringung von Metaphysik und Zweckhaftigkeit in den Machtfantasien von M das naive Weltbild, das hinter Politik stehen kann. Von der Akropolis verabschiedet er sich:

„Noch ein weiterer Gedanke geht hier oben durch seinen Kopf. Die Unsterblichkeit der Akropolis und des alten Athens wirkt bis heute aus der Erschaffung der Demokratie unter Perikles. Über Demokratie hat er mit Sakellarides nicht geredet. Die geheimnisvolle Andeutung, die griechische Regierung werde vielleicht im Falle der Ausweglosigkeit das Volk zu seinem Richter machen, war von M nicht weiter hinterfragt worden. Ihm blieb nur die Anmerkung, dass Demokratie in Deutschland an die Bewahrung von Wohlstand gebunden sei. Seine Wähler würden es ihm nicht verzeihen, wenn sie für Griechenland bezahlen müssen, um Wohlstand seiner Bürger auf Pump zu ermöglichen. Er hatte nicht den Mut gehabt zu behaupten, dass man das Volk nie befragen dürfe, ob es sich beim Wohlstand einschränken wolle, um anderen zu helfen. Im Gegenteil ist es seine Überzeugung, man gefährde die Demokratie, lasse man sich auf diese Art einer Abstimmung ein.
M nimmt sich vor, diesen Gedanken in seiner Kladde zu fixieren, weil er es für wichtig hält, die Andeutungen von Sakellarides und die Spekulationen von Tobias in seine Gespräche mit dem Fraktionsvorsitzenden einfließen zu lassen. Er sieht in der Vision einer Volksabstimmung eine logische Konsequenz ihres Göttervertrauens. Sie spielen mit dem Feuer und hoffen auf ihre Götter. Das ist, so glaubt M das Geheimnis der realitätsfernen Selbstbehauptungspolitik der Griechen. Er wird die Botschaft, die der Regierungssprecher ihm überbracht hat, auf einen einfachen Gedanken reduzieren, den er dann in seinen Kreisen und Netzen weiterreichen will. Er meint, den Regierungssprecher so verstanden zu haben, dass die von Deutschland erzwungenen Reformen darauf hinauslaufen würden, das Land hinter seine ökonomischen Potenziale zurückzuwerfen, es zu kolonialisieren. Was man mit der Austeritätspolitik verdamme, sei aus Sicht der Griechen die Zerstörung realer Möglichkeiten, ihr Land wirtschaftlich wieder stark zu machen.“

Das Kapitel endet mit der mageren Bilanz, die M mit einer Woche Athen für die Politik im fernen Berlin liefern kann:

„Am Abend setzt sich M an seinen Laptop und schickt an Schatz eine Mitteilung mit der Bitte, diese an den Fraktionsvorsitzenden und an den Finanzminister weiterzuleiten. Die Mitteilung ist kurz: „Im Rahmen meiner privaten, dennoch sehr politischen Reise nach Athen hatte ich heute die Gelegenheit, mit dem Pressesprecher der griechischen Regierung zu konferieren. Mir wurden die Bedenken von Seiten des Pressesprechers gegen die deutsche Europolitik sehr deutlich vorgetragen. Sie gipfelten in dem Vorwurf, dass die deutsche Politik die Lebensgrundlagen der Menschen in Griechenland zerstört und die Grundlagen der Demokratie gefährdet. Ich habe das zurückgewiesen und vor allem entschieden dagegengehalten, dass Deutschland eine Austeritätspolitik vertrete. Nicht die Verarmung der Bevölkerung sei unser Ziel, sondern die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands. Deutschland als das mächtigste Land der Eurozone trage die stärkste Verantwortung für das Ganze, und Griechenland tue für sich das Beste, diese Verantwortung zu teilen, statt sie zu bekämpfen. Im Übrigen habe ich mich dafür stark gemacht, humanitär zu helfen, wo wir humanitär helfen können. Dafür habe ich eigene Aktivitäten in meinem Wahlkreis angekündigt. Die Lebensverhältnisse sind für viele Griechen sehr prekär und verschlechtern sich jetzt noch durch das Eindringen von Flüchtlingen, wovon ich mich selber überzeugen konnte.“

TOP