Schatten der Macht – die Gewalt

M entflieht dem Alptraum seiner politischen Demütigung und macht einen Ausflug in seine Kindheit. Er will sich mit den dunklen Schatten seiner Geburt konfrontieren und landet auf der Ordensburg Vogelsang, einer der großen SS-Burgen der Nazis. Es geht nicht nur um die Frage, wer sind seine wirklichen Eltern. Es werden auch die Spuren aufgedeckt, die mit dem Leben auf dieser Burg verbunden sind. Die Antworten, die M findet, bleiben vage, aber die Tatsachen sind erdrückend.

Ausführlich wird die Hinfahrt zur Burg beschrieben, auf der sich Erinnerungen von M mit der Beschreibung der Locations mischen, die als Erleben der Gegenwart in einen dramaturgischen Kontrast gestellt werden. Denn zur gleichen Zeit sprechen der Bundestagspräsident und Madame darüber, wie man das Entstehen von Extremismus und Terrorismus verstehen kann. Der Tag beginnt am Morgen auf dem Balkon des Hauses von M, wo er über sich als Schicksal grübelt:

„In ihm breitet sich das Wort auf dem Balkon mächtig aus. Es überwuchert mit unglaublicher Geschwindigkeit alle Gedanken und Empfindungen. Er greift nach dieser Begeisterung, lässt sich in ihre Antriebskraft fallen. Die Konzentration auf sich als Getroffener des Schicksals wird zu einer tiefen Quelle für die Aktivitäten in seinem Kopf. Er fühlt sich jetzt ganz bei sich. Das Schicksal treibt ihn an, seinen Zustand als wieder erstarkende Gegenwart pfleglich zu umwerben. Es gelingt ihm spielerisch, Vergangenes im diffusen Schein des schmelzenden Nebels hinter sich lassen. Er ist hellwach, wie er die lähmenden Schmerzen des vorigen Tages in die Verborgenheit drängt, ohne zu wissen, was das Zukünftige bringen wird, wonach es ihn drängt. Allein gelassen als sein Schicksal will er nichts anderes tun, als sich diesem hinzugeben, durch es bewegt zu werden. So fügt er den Ablauf dieses Tages zusammen, ohne Nachdenken, allein gestützt auf die Kraft seiner Intuition, ohne Abwägungen der Vor- und Nachteile des Treibens, das ihn in Bewegung setzt.“

Die parallele Debatte, die Madame mit dem Bundestagspräsidenten beginnt, wird folgendermaßen eingeführt:

„Zum gleichen Zeitpunkt betrat Madame, die ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiterin von M, das Büro des Bundestagspräsidenten, ihrem neuen Arbeitgeber. Unter dem Arm hatte Madame eine feste Mappe mit zwei Fassungen eines umfangreichen Papiers, das unter Einsatz aller ihrer Kräfte in den letzten Tagen entstanden war. Sie ärgerte sich, dass sie immer noch mit klammen Gefühlen und übersteigerter Aufregung zu kämpfen hat, als sie den großen,  eher bescheidenen Raum des Bundestagspräsidenten betritt. Sie rechnete es ihrem Arbeitgeber hoch an, dass er auf allen historisierenden Schnickschnack seiner Machtbehausung verzichtet. Sie will sich nicht ausmalen, wie dieser Raum mit allen möglichen Symbolen dekoriert wäre, würde M in ihm residieren. Komisch, wie sich M immer wieder in ihre Gedanken und Gefühle einschleicht. Sie fühlt sich ihm doch eigentlich überlegen. Oft hat sie in den vergangenen Tagen über ihn fast mitleidig lächeln müssen. Die Qualitäten ihrer Arbeit hatte er nie erkannt, also auch nicht würdigen können. In der Vernunft ist M ihr nicht gewachsen. Andere Verbindungen zu ihm haben sich ihr nie erschlossen. Sie hält M nicht für einen Politiker, mit dem man ernsthaft diskutieren kann. Für dieses Parlament ist er eigentlich völlig ungeeignet. Sie sollte ihn endlich ganz vergessen.“

Parallel soll also das Prinzip der Rationalität mit dem Schicksalhaften des Irrationalen konfrontiert werden. Besonders behutsam ist zu formulieren, um die Rationalität des realen Bundestagspräsidenten zu charakterisieren. Hier sind Freiheiten unangebracht, die für den fiktiven Bundestagsabgeordneten M gelten. Folgende Passage über den Bundestagspräsidenten mag als Beispiel genügen:

„„Bevor wir in Ihr Papier einsteigen, möchte ich Ihnen eine These vortragen, die mich sehr beschäftigt, wenn ich über das Anwachsen der terroristischen Gewalt nachdenke und mir dann auch zu erklären versuche, warum die immer lauter tönenden rechten Potenziale in den völkischen und nationalistischen Kreisen so besorgniserregend verfangen können.“ Der Präsident sieht jetzt sehr ernst aus, Madame kann spüren, wie konzentriert er bei der Sache angekommen ist, wie ihn gleichsam physisch das Denken beschäftigt. Sie hatte sich ja dem Auftrag gemäß vornehmlich mit dem Terrorismus zu beschäftigen, der von den radikalen Islamisten ausging. Ihr Gesprächspartner eröffnet aber die Auseinandersetzung mit ihrer Arbeit mit einer Frage nach dem nationalistischen Potenzial für den Terrorismus, sucht nach Verbindungen, die er noch gar nicht in seinem Auftrag vorgegeben hatte.
Diesen Blick ihres Chefs über die Tellerränder hatte sie schon oft bewundert. Auf sie ging von ihm ein erregender und sie beglückender Zwang aus. Sie suchte nun ihrerseits nach einem Einstieg, mit dem sie individuelle Lebenserfahrungen als Quelle für den islamistischen wie nationalistischen Terror in den Blick rücken könne. Sie schaut dem Präsidenten nun voller Erwartungen offen in die Augen. Dieser untermauert seine Vorgabe für das Gespräch und erweitert seine Einführung: „Wollen Sie mir zustimmen, wenn ich behaupte, dass Gewaltbereitschaft durch Verlusterfahrungen oder durch stark erlebte Verlustangst entsteht? Ich will nicht sagen, dass jeder Mensch, der Verluste zu beklagen hat, zur Gewaltanwendung neigt oder Fantasien für reaktionäre Zusammenrottungen entwickelt. Aber solche Menschen öffnen sich Botschaften und Botschaftern eher. Sie werden Teil einer mehr oder minder geschlossenen Kommunikationsblase, empfänglich für diejenigen, die ihnen Macht als Austritt aus ihrer jämmerlichen Ohnmacht versprechen. Sie fühlen sich bei denen aufgehoben, wertgeschätzt, die ihnen eine andere Welt ausmalen,  für die sie ausgewählt sind, wenn sie nur den Einflüsterern vertrauen.““

In einem Gasthof lebt M noch einmal die Szene durch, in der er als 16 Jahre alter Junge von seinem Vater aufgeklärt wurde, ein Adoptivkind zu sein, über dessen Eltern nichts bekannt ist. Der Junge hatte das als cool erlebt, weiß aber, wie sehr der dunkle Flecken sein Leben bis heute bestimmt:

„Die Botschaft ist die Geschichte von M, ihr Anfang im Dunklen. Sie beginnt in der leisen, zögerlichen, nach innen gekehrten Stimme seines Vaters so: „Es ist schon lange her, da rief mich im aufkommenden Winter 1958 die Gemeinde Schleiden in einer nicht alltäglichen Rechtsangelegenheit an. Vor einem Nebeneingang des städtischen Krankenhauses sei im frühen Winter ein schreiendes Baby in einer Decke abgelegt worden. Es gab keine Spur, woher es gekommen sein mochte, und wer es dort abgelegt haben könnte, wer die Mutter, geschweige denn, wer der Vater war. Das Baby, ein Junge, war kerngesund, zählte erst wenige Wochen und wurde auf der Babystation von den Krankenschwestern liebevoll bestens versorgt.“ Das Problem habe darin bestanden, so erzählte der Vater weiter, nun etwas flüssiger, weil in seinem Arbeitsmetier angekommen, was mit diesem Lebewesen zu machen sei. Da sei juristischer Sachverstand nötig gewesen.
Spätestens an dieser Stelle schon, da war sich M in seiner Erinnerung sicher, wusste er, dass die Geschichte mit dem aufgefundenen Baby seine Geschichte sein müsse. Und er war sich auch seiner Erinnerung sicher, dass ihn das nicht geschockt, sondern dass er mit spannendem Interesse auf die weitere Erzählung des Vaters gewartet habe. Der Vater berichtet, wie er sich in diesen nicht alltäglichen Fall hineingekniet habe. Für ihn als Juristen gebe es keinen Fall, für den man keine Lösung finden könne. Das hat ihn angespornt, wie ihn immer seine Fälle angespornt haben. M hört zu aus der Überzeugung, dass er dank des juristischen Geschicks dieses Mannes als Baby, aufgefunden vor einem Krankenhaus, Sohn eines großen Anwalts geworden ist. M konzentriert sich auf die Hintergründe der Geschichte, die mit den juristischen Bewertungen zu verknüpfen dem Vater offensichtlich so schwer auszudrücken fallen. Die Spurensuche, die den Vater damals beschäftigte, wird für M das spannende Zentrum seines Falls. In ihr ahnt er die eigenen Wurzeln seines Lebens, von denen der Vater offensichtlich etwas weiß, die aber nicht seine Wurzeln sind. M merkt, wie ihn dieser Gewinn an Eigenständigkeit stark macht, und wie es umgekehrt den Vater schwächt, über ihn etwas zu wissen, an dem er keinen Anteil hat.“

Was M im Einzelnen noch erfährt, sind Indizien, dass seine Geburt eng mit der Burg Vogelsang verbunden ist. Sie sucht er auf und findet in Josef, einem uralten Mann, der offensichtlich die SS-Zeit detailliert aus Nähe erlebt hatte und getarnt als Jude wieder zurück auf der Burg in die Dienste der belgischen Besatzer genommen worden war. Die Gespräche mit Joseph, die Verbindungen zwischen der Nazizeit und der Gegenwart, bilden quantitativ die Mitte des Romans ebenso wie der Dialog im Bundestag über die Salafisten und die aus ihren Reihen herauswachsenden jungen Dschihadisten. Jakob:

„Jakob weiß, warum M ihn heute um ein Gespräch bittet, das er früher so beflissen vermieden hat. Eigentlich hat Jakob lange auf diesen Tag gewartet und Stolz schwingt in seiner Stimme mit, als er zu berichten beginnt, wie genau geregelt der Alltag der „Junker“ auf der Burg aussah. Von 6 Uhr am Morgen bis zum Zapfenstreich um 22 Uhr war jede Stunde genau festgelegt. Besonders wichtig waren neben den Sportstunden am Vormittag die Vortragsstunden zwischen 10 und 12 Uhr im großen Hörsaal. Da referierten die berühmten Namen jener Zeit über Geopolitik und Rassenkunde. Die aggressiven außenpolitischen und rassistischen Themen mussten täglich indoktriniert werden. Sie durften in keiner Weise diskutiert werden. An M direkt gewandt flüsterte Jakob fast konspirativ: „Wie du weißt, gehörte auch Theodor Oberländer, dein Mentor bis in die 80er Jahre, zu den Gastdozenten der Burg. Er wurde später ja CDU-Bundesminister, ein guter Freund deines Vaters.“ Dann aber weiter im Ton eines Fremdenführers: „Im Krieg ging viel an Disziplin und weitsichtiger Bildungsarbeit verloren. 1942 wurde die Burg umfunktioniert in ein Heim für werdende Mütter““.

Es gibt auf der Burg viele Details, auch einige, die direkte Bezüge zur Mutter von M herstellen. Aber obgleich die entscheidenden Fragen nun sehr nahe liegen, versteht es Jakob, seine letzten Geheimnisse nicht preiszugeben. Immerhin wird von ihm erzählt:

„„Ob ich deine Mutter kenne? Ich weiß das nicht genau. Ich weiß, dass sie als Mädchen 1938 auf die Ordensburg kam. Da war sie 10 Jahre alt. Wie sie hierher kam, durch wen sie eingeliefert wurde, ist mir bis heute verborgen geblieben. Sie war für alle auf der Burg das schöne blonde Mädchen, eine Fee, die von einer Gruppe Frauen behütet wurde, die in der Verwaltung der Anlage arbeiteten. Sie wohnte im Haus der weiblichen Angestellten, dessen Grundrissmauern ich dir ja schon einmal gezeigt hatte. Es hieß, die Fee genoss die besondere Protektion von Richard Manderbach, dem damaligen Kommandanten der Burganlage, bevor er Gebietskommissar in der Ukraine wurde. Er starb übrigens friedlich 1962 in seiner Siegerlandheimat in Herborn. Die Engländer hatten seine Entnazifizierung damals erfolgreich befördert. Dieser Manderbach hatte das Mädchen einem von ihm besonders geschätzten Ordensjunker in Obhut gegeben und ihm ans Herz gelegt, einen besonderen Blick auf die blonde Schönheit zu werfen. Denn die Fee umhüllte ein Geheimnis. Sie sprach nicht nur Deutsch sondern ebenso fließend Französisch und Spanisch. Man sagte damals, sie flüstere zudem mit Pferden in einer weiteren Sprache, die niemand kannte. Sie wurde kurz Eva genannt, obgleich jeder wusste, dass sie einen anderen Namen hatte, den jedoch keiner aussprechen konnte.“

Auch über seinen möglichen Vater, einen schlimmen SS-Schergen der Tötung baltischer Juden, erfährt M Einiges. Dieser hatte seine Mutter offensichtlich noch einmal 1958 auf der Vogelsangburg unter dem Vorwand getroffen, aufklärerisch über die SS-Zeit zu recherchieren. Bei diesem Treffen muss M gezeugt worden sein. Jakob erzählt über die Anwesenheit der beiden auf der Burg nur:

„“Ich hatte nicht das Vergnügen, je mit ihnen allein oder privat sprechen zu können. In der Burg bewegten sie sich wie Gesandte aus einer anderen Welt. Mit den belgischen Besatzern der Burg sprachen sie Spanisch, das die Dame dann ins Französische übersetzte. Die Soldaten waren höflich zu ihnen, in der Kantine sah man sie nie. Ich beobachtete sie so gut ich konnte. Du verstehst, warum ich ein besonderes Interesse an ihnen haben musste. Aber Vorsicht war geboten, um mich nicht selbst zu verraten oder zu gefährden. Vor allem die Belgier, die ja damals noch offiziell die einzigen Burgnutzer waren, sollten keinen ‚Verdacht schöpfen, dass ich diesen beiden Menschen irgendwie nahe stehen könnte. Mit wenigen Versuchen hatte ich für mich die Gewissheit, dass weder der Mann noch seine Frau in meiner Person irgendeine Erinnerung an ihre frühere Zeit auf der Vogelsangburg verbinden konnten. Sie nahmen mich einfach nicht wahr. Und das war sicher mein Glück. Nach einigen Monaten ihrer Anwesenheit blieb mir nicht verborgen, dass die Frau schwanger geworden war. Ich sah sie dann kaum mehr auf den Wegen oder in der Burg. Ich wusste aber, dass sie zwei Freundinnen oder Vertraute bei den weiblichen Angestellten auf der Burg hatte. Anfang Oktober muss sie das Kind geboren haben. In den Tagen gab es erkennbar etwas Stress im langweiligen Zeitablauf auf der Burg.
Ich habe nichts direkt gesehen, habe aber mitbekommen, wie Mitte November die Polizei aus Schleiden auf den Burghof auffuhr. Es gab eine kurze Besprechung in der Kommandantur. Nach einer halben Stunde rollte die Polizei wieder fort. Jener Herr, der uns so interessiert, und jene Dame, deren Erscheinung so geheimnisvoll ist, waren verschwunden. Ich habe sie nie wieder gesehen.““

M mischt sich einen neuen Cocktail für seine politische Mission, Macht und Gewalt auseinanderzuhalten, um gleichermaßen gegen den islamistischen wie gegen den völkischen Terror gewappnet zu sein. Aber auch das vernünftige Gegenbild von Politik, das im Bundestag diskutiert wird, lässt keinen klaren Entscheidungs- und Handlungsrahmen entstehen.  Madame bilanziert ihren neuen Arbeitgeber als persönlichen Gewinn, aber:

„Es gibt aber auch die wirklich Nachdenklichen. Ihr eigener neuer Arbeitgeber gehört zu ihnen. Er ist in der Lage, den politischen Rahmen der Demokratie bis in die tiefsten Abstraktionen zu bemühen. Aber er beachtet auch die Grenzen solcher Abstraktionen. In ihrem Gespräch mit ihm hat sie die Brüchigkeit der repräsentativen Beschwörung allgemeiner Werte spürbar erfahren. Überschreitet man die Grenzen, so hat sie den Präsidenten des Bundestages verstanden, landet man im Reich der Arroganz, im Reich der Macht, deren Statthalter den Boden der Mitmenschlichkeit verloren haben.....
In der Bibliothek findet sie den Zugang zu den Genealogien der Irritierten, der Leidenden, der Drängenden, der Denkenden, der Hoffenden, der Verzweifelten, der an den Rändern der Gesellschaft Gestrauchelten, der schlummernden Sehnsüchte in den Nischen der Gesellschaft. Nur das Aufspüren der Geschichten öffnet den Blick für Geschichte. Darin ist sich Madame sicher. Diesen Blick kann ihr die Bibliothek öffnen, nur mit ihm kann sie im Parlament arbeiten und bei den Abgeordneten dafür werben, sich aus der Rhetorik der Schicksalsgemeinschaft zu lösen. Sie will Politiker stärken, die aus Überzeugung die Grundwerte der Demokratie mit den Herausforderungen konfrontieren, die den Alltag der parlamentarischen Arbeit bestimmen. In der Gesellschaft verändert sich so viel, dass es nicht mehr ausreicht, Freiheit auf der einen Seite sowie Sicherheit und Ordnung auf der anderen Seite in einem für alle erträglichen Gleichgewicht zu halten. Aus einem ernsthaften Ethos in der Politik müssen die Vermittlungen neu gedacht und ausgehandelt werden, die Ziele der Politik zu erreichen.“

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