Jenseits der Politik

Im letzten Kapitel hat M alle Beziehungen in seinem politischen Leben aufgelöst. Sein Weg in seine Sonnenfinsternis endet bei der Wahrsagerin, die ihrerseits ihren Beruf durchaus politisch versteht. In dieser Konstellation gewinnt der Roman seine ausgeprägteste Emotionalität. Die Wahrsagerin setzt M unter eine Droge, erfüllt damit einen tiefen inneren Wunsch von M, den er sich offen nie zugestanden hätte. Den Verlauf der Session erzähle ich, indem ich mich auf Aufzeichnungen von Alexander Sasha Shulgin beziehe, den legendären MDMA-Forscher.

Zunächst muss deshalb das Bild der Wahrsagerin geschärft werden, das bisher so diffus geblieben ist wie die Ergebnisse ihrer beruflichen Tätigkeit. Wir folgen ihr bei der Vorbereitung für das Treffen mit M am 29, Mai 2015, dem letzten Romantag:
„Sie kokettierte gerne mit ihrem Beruf, wenn sie ihn offen preisgab. Die Leute meinten, sie könne ja nicht ganz normal sein, wenn sie sich der Astrologie verschreibe. Aber sie stand dazu. Für sie war Astrologie der schönste Beruf. Sie glaubte, Menschen mit ihren Horoskopdeutungen zu helfen, ihr Potenzial für ein erfüllendes Leben zu entdecken. Sie wollte ihnen mit ihren Vorhersagen Mut machen, endlich das zu sein, was sie in ihrem Inneren schon immer zu sein erträumten. Sie wollte Menschen Wege aufzeigen, wie sie nachhaltig etwas in sich entdecken können, wie sie etwas intensiv erleben können, was zu leben sie sich noch nicht getraut hatten. Einen solchen einwirkenden Zugriff auf Menschen konnte sie mittels ihrer Wahrsagerei besser als durch das enge Nadelöhr der Psychologie finden. Erfolgreich war sie, indem es ihr gelang, ihre Kundinnen und Kunden auf einen Weg zu schicken, auf dem sie genau das suchen und manchmal auch finden, was sie ihnen offenbart hat. Ihre Kunst bestand darin, diesen Menschen die Bestätigung zu geben, eben das Leben zu finden, das für sie bestimmt sei, statt Erwartungen anderer an sie zu erfüllen, denen sie nicht gewachsen sind. Mit dem Beruf verdiente sie viel Geld.“

Die Wahrsagerin versteht sich als eine gebildete Frau, für die Psychologie Voraussetzung ihrer Astrologie ist:
„Über die Glaskugel lächelte sie gerne, obgleich sie wusste, welch faszinierende Wirkung sie für ihre Arbeit hatte. Ihre Astrologie war umso wirkungsvoller, je besser sie alle Voraussetzungen erfüllte und je näher sie die Menschen kennengelernt hatte, die sich ihr anvertrauten. „Meine Astrologie greift, wenn sie dort ansetzt, wo ich den Blick in einen Menschen gefunden habe“, lautete eine ihrer Überzeugungen. Dieses Kennenlernen umschrieb sie mit den Verbindungen von Venus, Jupiter, Sonne, Mond, Merkur und Pluto, die sie dem Innenleben ihrer Klienten zuordnete. Als gebildete Frau wusste sie den Schleier richtig zu werfen, die Astrologie sei eine Geheimwissenschaft und lehre eine anderen Menschen nicht verständliche Sprache des Kosmos, das eigene Leben in seinen schicksalhaften Läufen zu verstehen und zu kontrollieren.“

Mit diesem Hintergrund hat sie, wie sie meint, M durchschaut. Ihr Programm, M unter eine Droge zu setzen, folgt ihrer Überzeugung, ihn von seinem Lebenstrauma therapieren zu können: „Sie wird ihn von seinem Lebenstrauma befreien, wenngleich sie die politische Persönlichkeit M nicht retten kann.“ Ihre Vorbereitungen sind sehr akkurat, die Szene wird vorgesgtellt:
„Schließlich richtet die Wahrsagerin sorgfältig den Raum her, in dem sie sich mit M später über Stunden aufhalten muss. Hinter ihren Tisch stellt sie den großen Sessel mit der hohen Rückenlehne. Sie thront darauf wie eine Königin. In die Mitte des Tisches stellt sie einen gläsernen Wasserkrug und die bunte Glaskugel mit den kristallischen Einschüssen. Den einen schweren böhmischen Weinpokal stellt sie vor sich, den anderen gegenüber auf die Seite, an der M Platz nehmen wird. Er wird in einem Sessel sitzen, niedriger als ihr Thron, aber sehr komfortabel. Zur Rechten wie zur Linken stellt sie je zwei silberne Kerzenleuchter, mit roten Kerzen bestückt. Weitere Teelichter stehen in flachen Glasbehältern auf dem Sideboard an der Stirnseite des Zimmers. Die Stehlampe mit den drei Leuchtarmen hat sie mit einem roten Seidentuch bedeckt. Aus ihrer großen Stereoanlage wird Musik klingen, die sie gerne hört. Sie wird nicht laut sein, aber mit permanentem Sound den Abend begleiten. Sie hat dafür Songs von Patricia Kaas, Carla Bruni, Bob Dylan, Janis Joplin, Eric Clapton, Eleftheria Arvanitaki und Charis Alexiou zusammengestellt. Sieben Stunden lang kann die Musik klingen.“

Auch M bereitet sich auf das Treffen vor. Es ist der Tag, an dem er alle Brücken zu seinem politischen Leben einreißt. Er beseitigt die Spuren seines Lebens in Berlin, packt eine Reisetasche, macht aber vor dem Aufbruch noch einen Bummel durch sein Wohnviertel, lässt sich rasieren und empfindet das Straßenleben intensiv und exotisch:
„Er gehört nicht mehr dahin, wo er sich befindet, ist heimatlos, weil er keinen Sehnsuchtspunkt in seiner inneren Auflösung hat. In jedem der vielen Häuser, die an ihm vorbeiziehen, könnte er untertauchen. Dann würde er beobachten, wie sie nach ihm suchen, wie er für kurze Zeit im grellen Licht der Aufmerksamkeit stehen würde, unerkannt. Doch was wäre er? Nichts von Bedeutung, nach kurzer Zeit unbekannt.“

Noch einmal in seiner Wohnung angekommen, schreibt er in seinen Computer einen Abschieds-, besser Abmeldebrief, den er an für ihn wichtige Adressaten in Briefumschläge steckt. Er will unauffindbar bleiben:
„„Aus persönlichen Gründen verabschiede ich mich aus der Politik. Ich gebe mein Mandat als Abgeordneter des Deutschen Bundestages zurück und lege alle meine Funktionen in politischen und sonstigen Organisationen nieder. Ich verlasse auch meinen Wahlkreis und verabschiede mich von der deutschen Öffentlichkeit. Ich bitte, diese Entscheidung zu respektieren und keinerlei Spekulationen zu betreiben, was mich zu diesem Schritt geführt hat. Ebenso dringlich bitte ich darum, von allen Versuchen abzusehen, meinen weiteren Lebenslauf zu verfolgen oder über meine Zukunft zu spekulieren. Die Gründe meiner Entscheidung sind nicht diskutierbar. Ich bitte deshalb darum, von allen Nachforschungen abzusehen und keine Schritte zu unternehmen, meine Person aufzufinden. Von mir aus breche ich alle Kontakte mit mir bekannten Personen ab und bitte, das vollständig zu respektieren. Um die zu regelnden Angelegenheiten meines Eigentums und meiner Finanzen werde ich mich kümmern. Spuren, die auf diese Weise zu mir führen mögen, werde ich zu löschen verstehen. Ich lebe jenseits der bekannten Alltäglichkeiten und werde im Inkognito eine neue Identität finden, an der keiner Anteil haben soll, der mich kennt. Ich bin gewesen. Anders werde ich sein-““

Nun bleibt nur noch das Treffen mit der Wahrsagerin, der Schlussstein des Romans. Das Ritual wird von der Wahrsagerin zelebriert:
„Vor sich stellt die Wahrsagerin ein kleines hölzernes Kästchen mit einem Deckel wie bei einer Truhe. Es ist reich mit kostbaren Intarsien ausgearbeitet. Sie entriegelt den Deckel und hebt aus dem mit Samt ausgeschlagenen Inneren eine kleine weiße Kapsel, die sie auf einen glänzenden silbernen Teller legt.  Diesen schiebt sie in einer langsamen Bewegung rüber auf die Seite von M. Sie gießt Wasser in den Kelch aus böhmischem Kristall und schiebt auch diesen vor ihren Gast. Sie faltet ihre Hände auf dem Tisch, schaut M konzentriert in die Augen und bittet ihn, die Kapsel mit viel Wasser zu schlucken. „Ich werde Sie in eine andere Welt führen“, begleitet sie den feierlichen Ritus, „und schon in einer Stunde werden Sie in ihr angekommen sein. Entspannen Sie sich, suchen Sie nicht nach Worten, lassen Sie meine Stimme in sich fließen und gleiten Sie dann in die Weiten der kosmischen Musik.“ Sie lädt ihn ein, die nächsten Stunden ganz passiv bleiben zu dürfen und zieht seinen Blick auf die Glaskugel vor sich, die im Kerzenflimmer schimmert.“

Was nun folgt, ist eine wilde Traumgeschichte, für die Wahrsagerin aber eine kontrollierte und geleitete Drogensession. Der mystische Raum wird vor allem aus dem Innenleben von M aufgebaut. Sie will seine Empathielosigkeit brechen. M in dieser Anfangsphase:
„Nur ansatzweise kann er das Erleben steuern, registriert, wie hochtourig sein Gehirn läuft, in dem es immer schwindeliger wird. Das Reden der mächtigen Frau ihm gegenüber dringt zwar immer noch in ihn, aber es bewegt kaum mehr etwas. Die Übelkeit ist schnell gewichen, und ein überaus wohliges Gefühl breitet sich in ihm aus. Er ist ein glücklicher Mensch und weiß nicht, warum. Es strömt aus ihm, den Reizen entgegen, die auf ihn einwirken. Er lebt nicht im Schloss der Wahrsagerin, sondern er ist das Schloss, in dem die Welt zu Hause ist. Wörter und Musik  mischen sich in einem Zauber dieses Raums, fließen in eine tiefe Entspannung und in ein Empfinden nie gekannter Eintracht mit sich selbst. Ein kurzer, bewusst artikulierter Satz bleibt hängen: „Der Bann meiner Mutter liegt über mir.““

In M verändert der Rausch seine Position zu seiner Vergangenheit. Sie bestimmt nicht mehr seine Gegenwart. Die Wahrsagerin beobachtet ihn von außen, wartet auf den Augenblick, von dem an sie seine Traumwelt glaubt, lenken zu können:
„Es ist nun fast halb acht Uhr geworden, und sie weiß, er ist jetzt ganz und gar in seiner schönen neuen Welt. Zu ihr hat sie keinen Eingang. Sie muss genau den Augenblick des langsamen Wiederauftauchens finden, um sich dann gezielt in seine Verwandlungen zu mischen, im Noch-Zauber die Führung übernehmen zu können. Nun aber sitzt sie wie erstarrt ruhig auf ihrem Thron und schaut gebannt auf ihren Gast auf der anderen Seite des Tisches, der nur scheinbar wie ein ganz normaler Mensch vor ihr sitzt, etwas zerfahren vielleicht, hypnotisiert in seiner körperlichen Erstarrung und entspannt in seiner explodierenden Innenwelt, eingetaucht in die Magie mystischer Weiten des ozeanischen Kosmos.“

Der Augenblick für die Wahrsagerin ist gekommen, als die volle Wirkung der Droge abnimmt und sich M wieder als Subjekt entdeckt in seiner Welt paradiesischen Erlebniswelt:
„M ist angekommen im Mittelpunkt eines Lebens, das nicht mehr erschlossen werden muss. Licht, Farben, Formen, Klänge, Berührungen überhäufen ihn so reich, dass er sich nur noch als das Zentrum eines Glücklichen empfindet, nachdem er alle Schwerpunkte seines Lebens verlassen hat. Zaghaft und nur ganz langsam in Ansätzen kommen M wieder Merkmale ins Bewusstsein, dass er sich als Erlebenden begreifen kann. Er fängt an, seinem Zustand eine Bedeutung zuzumessen, sein Glück begreifen zu wollen. Er empfindet die unbeschreibliche Welt, mit der er gerade wild verbunden ist, als möglich, als wunderbar entlastend, und er empfindet Anflüge eines Stolzes, wie leicht er die normalen Ängste, Freuden, Niederlagen und Erfolge ins Lächerliche verbannt hat.“

Jetzt beginnt der Eingriff der Wahrsagerin. Sie lenkt ihn in die Bilderwelt auf die Burg Vogelsang, an den Herkunftsort seiner Existenz und zaubert seine Aufmerksamkeit auf die Bilder seiner Mutter und seines Vaters. Diese spielen nun in M ein wundersames Spiel, das M erlebt, aber gleichzeitig auch, wie es ihm scheint, von außen beobachtet. Die Wahrsagerin setzt ihre Glaskugel ein und hält mit ihr die Konzentration von M auf seine Bilderwelt. Seine Mutter und sein Vater werden nun die Dämonen des Protagonisten:
„M sucht nach einem Gefühl der Verzweiflung. Ein lauter Schrei sollte sich aus seiner Brust lösen. Doch er sieht sich wie einen Buddha auf dem Platz kauern, klein zwar, aber zart lächelnd und ohne Regung angesichts der ungeheuerlichen dunklen Gestalt seiner Mutter, die gnadenlos abwesend so dicht an ihm vorbeizieht, ohne Blicke, ohne Regungen für ihn. Er kann sie schon nicht mehr sehen, wie sie hinter seinem Rücken verschwindet in eine dämonisch schauerliche Nacht, die kalt seinen Körper auf den nackten Steinen streift.“

Noch einmal baut sich eine Szene auf, dieses Mal mit dem Vater und der Mutter als Schatten, die ein lächerliches Tanzspiel vollziehen. Die Mutter vertreibt den Vater. Doch M kann die Mutter, will die Mutter nicht mehr erreichen:
„Die Mutter bleibt einen Augenblick stehen, nur wenige Meter von ihm entfernt. Sie hat sich ihm zugewandt. Nur für einen Bruchteil eines Augenblicks sieht er in ihr Gesicht. Er sieht in ihre dunklen Augen, er meint den Stirnrand ihrer blonden Haare zu erkennen und sieht einen Mund, den er aus dem Spiegelbild von sich selbst kennt. Sofort hat die Mutter mit der Decke wieder ihr Gesicht verhüllt. Der Junge unter ihr zu ihren Füßen lächelt. Er ist ohne Angst. Er sehnt sich nicht nach ihr und schaut sie an wie ein Märchen. Er merkt, wie kopflos grimmig seine Mutter wird. Sie stampft mit einem Bein auf, verkrampft sich mit den Armen um ihren Körper. Sie geht ein wenig in die Knie und setzt zu einem Sprung auf ihn an. Ein mächtiger Wind rast über den Platz und bläht die Decke um die Mutter von hinten auf. Sie springt auf ihn zu mit weit geöffneten Armen. Bevor er ihren entblößten Körper erkennen kann, ist sie schon über ihm. Er spürt den Wind wie ihren Atem. Es saust ihm durch die Ohren. Sie ist durch ihn durchgefahren und löst sich im aufgewirbelten Staub auf. Er sitzt noch eine Weile und genießt die himmlische Ruhe in vollständiger Entspannung.“

Die Session geht zu Ende, der Roman hat ein Ende. Wie es mit M weitergehen wird, wissen wir nicht:
„Er kommt zurück in die reale Welt der Dinge, zu denen er gehört. Er lächelt die Wahrsagerin an und sagt: „Das war so schön.“ Die Wahrsagerin hat die Hände von der Kugel genommen. Sie weiß nicht, was M gerade erlebt hat, fragt nicht danach. Sie ist sicher, es waren starke Bilder, mit denen er allein war. Sie ist nun wieder die Frau auf der anderen Seite. „Nie wieder wird sie Ihnen begegnen“, sagt sie. „Sie haben sich von der Verfolgung gelöst.“
M hat noch Mühe, sich wieder zu sortieren. Was er soeben erlebt hat, waren tiefe Eindrücke, die er schon jetzt nicht mehr klar erinnern kann. Das Gefühl, in einer Welt gewesen zu sein, in der das Glück die Geschichte geschrieben hat, ist hängen geblieben. Freundlich lächelt er die Frau gegenüber an, die sein Lächeln erwidert. Noch eine Zeitlang sitzen sie sich schweigend gegenüber und lauschen der Musik. Sie klingt immer noch mit theatralischer Schönheit und Harmonie. Es gibt nichts zu besprechen, keine Zukunftszeichen zu deuten. M stellt keine Fragen, die Wahrsagerin hat keine Karten gelegt, kein Horoskop gemurmelt. Es wird spät in der Nacht, bis M aufsteht, seine Reisetasche packt und grußlos das Haus der Wahrsagerin verlässt.
Auf der Straße riecht es nach einem warmen Sommer. Die Geräusche sind laut, und auf den Bürgersteigen und in den Restaurants ist pralles Leben. M wankt noch ein wenig und ist unsicher auf den Füßen. Fünfundsechzig Tage nach der Sonnenfinsternis wirft M seine Briefe in einen Briefkasten. Danach verlieren sich seine Spuren.“

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