Entfremdung in der Heimat

Die nächsten beiden Kapitel spielen im Wahlkreis von M, seiner Heimat. Hier darf er sich als der starke, als der über viele Jahre erfolgsverwöhnte Politiker fühlen. Es ist eine ländliche Gegend mit viel Weinanbau, Bergen und fruchtbaren Tälern. M ist in einer Familie aufgewachsen, die konservativ, vermögend und weitsichtig genannt werden kann.

Sein Vater war Anwalt, der es nicht nur verstanden hatte, große politische Persönlichkeiten mit ihren politischen Projekten an sich zu binden. Er hatte seinen Adoptivsohn M auch von früh auf in die Strategie und Taktik des langen Atems erzogen, mit Beharrlichkeit und mit den Instrumenten der Macht jene Positionen zu erklimmen, die schließlich bis zum Bundestagsmandat führten. Vom Vater erbte er das riesige kommunale Projekt, über die Flussschleife eine Hochbrücke zu bauen, wie sie es in der Republik kein zweites Mal gegeben hat. Doch das Werk wurde immer schwieriger, zog sich in die Länge. Und nun wuchs der Widerstand. Eine Bürgerinitiative war entstanden, von M völlig unterschätzt. Eine unheilige Konfrontation nimmt einen unerbittlichen, für die Autorität von M zerstörerischen Verlauf. Sein Plan, als politischer Garant der örtlichen Interessen seinen Wahlkreis mit den aufziehenden Unruhen durch die Flüchtlingskrise auf seinen Kurs zu ziehen, misslingt gründlich.

Die Politik wird in dieser Zeit zum Selbstgespräch. M füllt viele Seiten seiner Kladde:

„M schreibt mit Inbrunst und Stolz. Er ist sicher, dass er den Kern von Macht früher erspürt als alle Diplomaten seiner Regierung und klarer benennen kann als die meisten Politiker im Deutschen Bundestag. Hätte er jetzt auf der Bahnfahrt noch mehr Zeit, würde er den Entwurf einer Rede vorbereiten, die er zu gegebener Zeit im Bundestag halten möchte. Er ist sicher, der Zeitpunkt wird schon bald kommen, an dem eine solche Rede gehalten werden muss. Er ist überzeugt, dass er Größe, Ansehen und Kraft als derjenige Abgeordnete gewinnen wird, der dem Begriff Terrorismus eine angemessene Dimension für die gegenwärtige Politik eröffnet. M ist seinem Lehrmeister Erdogan fast dankbar für die klare Sicht, dass Terroristen nicht nur die durch die Welt marodierenden Islamisten sind, die mit Bomben und Gewehren, mit ungeahnter Brutalitäten wahllos Tod und Schrecken in das zivile Leben bringen. Terroristen sind für ihn unabhängig von Attributen sehr viele Menschen, die sich den Realitäten ihrer Lebenswelt entgegenstellen. Sie sind der Humus, aus dem dann die Täter werden, die im Augenblick des Zuschlagens für Unbeteiligte so brutal gefährlich sind. M ist sicher, die Bedeutung des Terrorismus erschließt sich aus der Perspektive der Macht. Jede Regierung, so ist er überzeugt, muss die ethnischen, religiösen, auch sozialen Zustände in der Gesellschaft ihrer Staaten genau analysieren, um sich der Potenziale bewusst zu werden, ohne die der Terrorismus blutlos wäre. Das soll seine Botschaft werden, diese Erkenntnis ist er sich schuldig. Er will als Mann der Macht gelten. Mit dieser Sicht und einem warmen, ihn durchfließenden Gefühl der Größe, lässt er den großen Fraktionsvorsitzenden ganz klein aussehen. Der versagt gerade. Er braucht nicht mehr dessen Loyalität.“

Über den Vater wird in diesem Kapitel viel geschrieben. Vor allem geht es darum, ihn als Persönlichkeit auszuzeichnen:

„Der Vater war als Jurist und Spezialist des Bürgerlichen Gesetzbuchs beruflich vor allem mit den Großen der näheren und weiteren Umgebung eng verbunden. M hatte von klein auf gelernt, dass ein exzellenter Anwalt ein geborgenes Nest für alle ehrgeizigen Menschen bieten müsse, die Geld, Einfluss und Macht erstreben und nach oben wollen. Der Vater galt als exzellenter Kenner der Kommentare und der höchstrichterlichen Rechtsprechungen rund um das Bürgerliche Gesetzbuch. Das führte viele Entscheidungsträger aus der Politik zu ihm. Der Vater wusste um die Abhängigkeit der Mächtigen von den Experten des Rechts, und er verstand, diese Abhängigkeit für sich zu nutzen. Er hatte auch einen ausgeprägten Sinn, Menschen in ihren Eigenschaften danach zu unterscheiden, ob sie eher für die Politik oder für das Recht geeignet sind. M war noch nicht einmal 16 Jahre alt gewesen, als ihm sein Vater deutlich sagte, du bist eher für die Politik geeignet als für den Beruf eines Juristen. Diese Einschätzung wurde mit der Zeit zur festen Überzeugung des Vaters, die M mehr und mehr zur eigenen werden ließ.“

Die Lehrjahre in seiner Heimat sind eng mit dem Elternhaus verbunden. M nährt mit ihnen seine Traumwelt, seine Illusionen:

„Der Film hinter den geschlossenen Augen von M erzeugt innere Wärme, das Gefühl von Entspannung und Lust in der Selbstwahrnehmung. M kennt es als häusliches Wohlbehagen, das ihn regelmäßig erwartet, wenn er von seinen angespannten Wochen in Berlin in seine Heimat reist. Die vielen Aufbaujahre, in denen es zahlreiche kleine Etappenziele zu feiern gab, aber auch zermürbende Wartezeiten zu überleben galt, fliegen in seinem Film wie im Rausch vorbei. Aus dem politischen Lehrling M wird schließlich wachsend das „talentierte Urgestein“, wie man ihn damals gerne und häufig nannte. Seine Karriere war die Rendite für die Beharrlichkeit, mit der M das Projekt über Jahrzehnte vertreten hat. Der Bau der Brücke war eins mit dem Aufstieg des Politikers M. Er war sachkundig, umfassend informiert, blickte stets nach vorne, drängte. Seine Lehrmeister hatten es verstanden, ihn mit einem Arsenal politischer Glaubenssätze und Handlungsüberzeugungen auszustatten, die sich als tauglich erwiesen, nicht nur im Projekt sondern auch in allen anderen Politikfeldern zu brillieren und ihn als eine politische Instinktgestalt mit Überzeugungsgrundsätzen erscheinen zu lassen, die auf jede politische Alltagsanforderung eine beeindruckende Antwort fand. Die Karriere trug ihn und machte ihn, als er körperlich bereits ausgewachsen war, immer größer.“

Doch während des Aufenthaltes Ende April 2015 bricht eine innere Katastrophe über M herein. Zwar werden in den normalen Tagesgeschäften in seinem Büro Schwierigkeiten mit der Brücke offensichtlich, ihre emotionale Wucht aber dringt nicht in die Instinkte von M ein. Es geht deshalb im Roman darum, diese Emotionalität als Überfall auf die politische Persönlichkeit M zu inszenieren. Seine poitive Grundstimmung ist noch voller Selbstüberschätzung:

„Optimismus ausstrahlen und zähe Arbeit im Bundestag für das Projekt betreiben – das ist die Anforderung, die M nach der Kür zum Mandat im Bundestag an sich selbst stellt. Er sieht sich schon in der Rolle eines Brückenkönigs von Berlin, der lächelnd und erhobenen Hauptes in sein heimatliches Reich einreitet, zwar nicht hoch zu Ross, aber doch staatsmännisch erhaben, die dankbare und huldvolle Bevölkerung grüßend. Wenn M an guten Tagen in seinem Bett zu Hause liegt und die Bilder aus den vergangenen Jahren vorüberziehen lässt, fühlt er sich schlafend glücklich. Die Brücke bekommt dann menschliche Züge, wird zu seinem Schicksalskameraden, der sein Leben mit den so ungleich vielfältigen Anforderungen zu einem großen Ganzen verbindet. Er nennt die Brücke seinen sichtbar gewordenen Kosmos im Genius eines Menschen.“ So passt es auch bestens, dass er heute riesige Erfolge mit seiner Sammlung für die Griechen im Athener Gesundheitszentrum verkünden kann.“

Ausführlich wird die Versammlung beschrieben, auf der M angesichts wütender Proteste die Haltung des überlegenen Politikers verliert. M hat das so erlebt:

„Die Niederlage hat M in der Versammlung sofort in aller Wucht gepackt. Sie füllte die entscheidende Pause in seinem Manuskript. Den Abschnitt über das neue Weinhandelszentrum hatten bereits Zwischenrufer dauerhaft gestört. Die Botschaft konnte gar nicht die Ohren derer erreichen, die sie mit erregender Neugier gerne gehört hätten. Seine Ausführungen über die drohende Invasion der Flüchtlinge hatte er folglich ganz fallengelassen. M fühlte, wie wackelig er auf den Beinen stand, kämpfte gegen das eigene körperliche Versagen an, das sich von dem riesig aufblähenden Punkt der Manuskriptpause an in ihm breitmachte. Das große M-Projekt zerbröselte in seiner kraftlosen Stimme und in der zunehmend schleppenden Redeweise. Der Abgeordnete klebte am Papier, unfähig, jetzt noch eine Spur in sein Publikum zu legen. Wie ein Stich hörte M im Laufe der nächsten Zeit immer wieder seine Kapitulationssätze sagen: „Ich breche meine Ausführungen an dieser Stelle ab, weil ich davon ausgehen muss, dass Sie mir nicht zuhören wollen.“ Das war sein Beitrag zum Eklat, weiß M sofort. An dieser Stelle gab es keine Brücke mehr. Unter lauten und erregten Unmutsäußerungen, unter derben Pfiffen wendet sich M vom Rednerpult und verlässt einsam wie ein geprügelter Hund den großen Versammlungssaal, dessen Lärm in seinen Ohren hängenbleibt.“

M zieht sich ganz auf sich selbst zurück, meidet jeden Kontakt mit seinen politischen Freunden, fühlt sich am Boden zerstört, begibt sich im Regen auf die einsame und verlassene Baustelle. Dort spürt er wieder den Schatten hinter sich, erlebt sich wie in einem Theaterstück, als er sarkastisch sich selbst verhöhnt:

„M bricht ab und muss laut lachen, sarkastisch, hohl. Er schaut sich um, schaut nach hinten und merkt, dass der Schatten verschwunden ist. Er sieht an sich herunter, eine jämmerliche Gestalt, durchnässt, voller Schmutz. Das Papier in seinen Händen ist durchnässt, die Buchstaben lösen sich in feuchten Flecken auf. Er zerreißt es in kleine Stücke und wirft sie hoch über sich in den Wind. Er empfindet sich als eine lächerliche Figur und macht sich auf den Rückweg zu seinem Auto. Diese Schlacht gegen die Weinbauern hat er verloren, das ist ihm klar. Es gibt ihn nicht mehr, vor dem sie sich fürchten. Ein Riss wird deutlich. Sie haben mich gewählt, sie zu vertreten, für sie zu sprechen. Er hat sie benutzt, Schritt für Schritt mächtiger zu werden weit weg in Berlin. Er hat von Gemeinschaft geredet, ihre Traditionen beschworen. Er hat bei ihnen genistet. Aber er ist kein Weinbauer. Er besitzt keinen Weinberg.“

Durchgefroren legt er sich zuhause in Badewanne, weit entfernt, einen Sinn im Nachdenken zu finden, was ihm geschehen ist. Er kann nicht einfach in den politischen Alltag zurückkehren. Aber er kann auch nicht vor sich selber kapitulieren. Er muss für sich eine persönliche Klarheit auf anderem Weg suchen:

„In der Badewanne wird es M wieder klar, wie letztlich unwichtig es ist, ob er eine Niederlage erlebt oder ob er siegesgewiss einen Auftritt beenden kann. Was unwichtig ist, ist am Ende auch langweilig. Seine Zellen erneuern sich ständig weiter. Niederlagen, Stolz, Schmerzen und Triumphe haben stets dem gegolten, der er nicht mehr ist. Er erneuert sich immer wieder, und was ihn oben hält, muss ein Geheimnis bleiben, solange es die Kraft hat, dass er die Macht behält, anderen Menschen die Angst zu machen, die sie in seine Hände treiben. Das Bleibende in seiner ständigen Erneuerung nennt er die Reinkarnation des Kosmischen in seiner Biografie. Die Vergangenheit ist wie ein Narbenteppich auf seiner Haut. Sie blutet nicht und ist schmerzfrei. In der Badewanne löst sich der Tag von ihm.“

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