Das wankende Haus in der Politik

Mit seinem neuen Thema Flüchtlinge muss M, typisch für ihn, Hals über Kopf seine Arbeit als Abgeordneter völlig neu organisieren. Er tut das auf seine sehr persönliche Weise im Netzwerk der wenigen politischen Bezugspersonen, die ihm wichtig sind. Einigermaßen robuste Informationsquellen bleiben ihm fremd. Er hält es mehr mit den günstigen Augenblicken, die er in seinem Büro erlebt oder auch in Gestalt eines Beamten aus dem Finanzministeriums. Seine Stütze ist seine Büroangestellte, der er Schatz nennt. Von seiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Madame entfernt er sich immer mehr. Er wird sie ohne Not später aus seinem Büro rauswerfen.

Das Verhältnis der beiden Frauen im Büro wird folgendermaßen beschrieben:

„Schatz ist froh, dass heute ihr Chef wieder ins Büro kommt. Die Wochen ohne ihn waren zäh dahingeflossen, ohne Eindrücke zu hinterlassen. Mit Madame hatte sie die üblichen Floskeln ausgetauscht, für sie die eine oder andere Schreibarbeit erledigt. Sie war überzeugt, dass Madame eine leidlich freundliche Frau sei, sehr fleißig und ehrgeizig, aber völlig ungeeignet, eine erfolgreiche Chefin werden zu können. Madame, so empfand Schatz ihre Kollegin, war eine Frau, der wesentliche Attribute des Fraulichen abhanden gekommen waren, die wenig zu einer alltäglichen Kommunikation beizutragen hatte, die eine unergründliche Leidenschaft trieb, sich in irgendwelchen Ideen und Projekten zu verlieren, die keine Teamhierarchien anzuerkennen schien und deshalb nicht in der Lage war, selber irgendwelche Führungsqualitäten auszubilden. Schatz arbeitete in ihrer Gegenwart ohne richtigen Halt. Sie ertappte sich oft, dass ihre Stimmung bei der Arbeit aufgehellter war, wenn sie es mit Dokumenten oder Sachvorgängen zu tun hatte, die mit M zu tun hatten, als wenn sie auf Anordnung oder Bitte von Madame sich um deren Belange zu kümmern hatte. Dennoch war ihr die Zusammenarbeit mit Madame keine Last. Ihre Kollegin war freundlich und überforderte sie nicht, blieb in der Konversation ausgeglichen und ließ der Kollegin genügend Spielräume. Sie bilanzierte gerne ihr Verhältnis zu Madame mit der Feststellung: Sie weiß nichts über mich, und ich weiß nichts über sie.“

Die politischen Irritationen kommen für M von außen, von dem zähen Ringen im Bundestag um die Resolution über den Völkermord an den Armeniern in der Türkei während des 1. Weltkriegs. Madame ist in der Vorbereitung dieser Resolution eine treibende Kraft und gewinnt das Vertrauen des Bundestagspräsidenten. Für M ist die Resolution eine politische Katastrophe, weil er überzeugt ist, dass ihre Wirkung darin bestehen wird, dass der gekränkte Präsident Erdogan die Grenzschleusen für die syrischen Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa öffnen wird. Das zähe Ringen um die Resolution wird im Detail recherchiert vorgeführt. Der Konflikt mit Madame eskaliert:

„Madame ist überzeugt, dass sie methodisch völlig anders arbeitet als M. M, so ist sie überzeugt, ist ein typischer Vertreter der Politik, männlich, opportunistisch im Einsatz seiner Mittel, Machtpositionen zu erklimmen, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und geneigt, Menschen nach dem Mund zu reden und ihnen das Gefühl zu geben, sich um sie zu kümmern, obgleich, ohne Empathie für andere Menschen, ausschließlich an den eigenen Netzwerken interessiert. Stammtisch affin mit Instinkten ausgestattet, hatte ihn Madame einmal charakterisiert. M hätte nicht widersprochen, in der Politik instinktiv zuzugreifen. Wachheit und schnelle Reaktion in einer gerade gegebenen Situation waren ihm wichtig, seine eigene Position ins rechte Licht zu rücken. Madame verachtet nicht den Politiker M, weil sie weiß, dass er grundsätzlich berechenbar ist, weil er das Mehrheitsprinzip des Politischen verkörpert Vielleicht ist er nicht gerade besonders intelligent, denkt sie, und eine große Ausstrahlung erzeugen kann er auch nicht, doch intuitiv und unreflektiert auf der Bühne agieren, überaus zielsicher zugreifen und manchmal sogar effizient handeln, das kann er. Sie hingegen ist die Intellektuelle. Für sie Ist das Politische Ausdruck der gründlichen Analyse, des Diskurses nicht endender Begründungen, warum eine Positionierung notwendig ist, welche Konsequenzen favorisierte Entscheidungen haben müssen. Sie arbeitet mit Begriffen, mit Dokumenten, mit den Mitteln der Logik. Ihre Arbeitsergebnisse bestehen aus nachvollziehbaren Schlussfolgerungen, aus Bausteinen, mit denen man Überzeugungen errichtet. Für sie ist ein Gesetzentwurf ein Meisterstück methodisch sauberer Arbeit.“

M setzt seine Karte auf das Finanzministerium, weil ein Beamter aus dem Ministerium Interesse an seinen Erfahrungen in Griechenland zeigt. Der Beamte wittert, wie M glaubt, die politische Krise, die durch den vermehrten Zuzug von Flüchtlingen auf das Land zukommt, wähnt sich als politisches Schwergewicht für die kommenden Monate. Die beiden speisen gemeinsam im gastlichen Haus der Parlamentarischen Gesellschaft, in der sich M besonders wohl fühlt. Die finanzpolitische Diplomatie von M in Athen imponiert dem Beamten offensichtlich wenig, aber:

„M irritiert das maliziöse Lächeln, das sein Gegenüber immer dann auflegt, wenn M spricht. Boshaftigkeit ist nicht Sache des Abteilungsleiters. Aber sein Gesicht zeigt an, dass er eigentlich etwas ganz Anderes will, als im Gespräch hin und her gereicht wird. Nachdem der Hauptgang aufgetischt und Wein in die Gläser nachgeschenkt worden ist, legt der Abteilungsleiter eine Spannung erzeugende Kunstpause ein. Dann holt er tief Luft und startet einen Überraschungsangriff: „Ich möchte mich bei Ihnen noch über eine andere Sache erkundigen, die uns viel Kopfzerbrechen macht. Haben Sie in Griechenland wahrgenommen, wie Flüchtlinge ins Land kommen und was man mit ihnen macht?“
M zögert nun seinerseits ein wenig und sagt dann: „Ja, das habe ich. Aber warum fragen Sie?“ „Ich frage Sie, weil wir eine noch viel größere Gefahr ins Auge nehmen müssen, wenn wir Griechenland und die Eurokrise in den Mittelpunkt unserer Politik stellen. Die Zeichen mehren sich, dass Griechenland zum Schleusentor für Flüchtlinge aus Syrien und anderen arabischen Ländern nach Europa wird. Zwar ist, wie Sie wissen, nach dem Dublinabkommen das Ankunftsland allein für die dort landenden Flüchtlinge zuständig, aber wir haben allen Grund zu bezweifeln, dass der griechische Staat dieser Aufgabe gewachsen sein wird. Die meisten kommen illegal und ohne Papiere, und sie wollen nicht in Griechenland bleiben, sondern sind auf dem Weg ins Zentrum nach Europa, vornehmlich in unser Land.“
Der Abteilungsleiter holt aus seiner Jackentasche ein DIN-A4 Blatt, auf dem die Umrisse der europäischen Staaten eingezeichnet sind und auf dem mit Farbe handschriftlich verschiedene Linien eingetragen sind, die von Griechenland über den Balkan nach Deutschland führen. Er breitet das Papier auf dem Tisch aus, glättet die Falten und erklärt M: „Sie sehen, wie räumlich eng Griechenland mit seinen vielen Inseln mit der Türkei verbunden ist. In der Türkei gibt es bereits zwei bis drei Millionen Flüchtlinge aus den Bürgerkriegsregionen von Syrien, und es werden jeden Tag mehr. Die drängen in Scharen nach Europa. Die Überfahrt auf die Inseln ist kurz und im Vergleich zu den Überfahrten nach Italien weniger gefährlich. An der türkischen Küste gibt es unzählig viele Schlepper, bestens organisiert, die die Flüchtlinge auf fürchterlichen Kähnen gegen viel Geld auf die Inseln oder im Norden über verschlungene Pfade auf das Festland transportieren. Die Registrierung erfolgt nur in seltenen Fällen, die meisten Flüchtlinge kommen ohne Papiere, tauchen unter und schlagen sich durch. Viele landen in den Städten, andere bleiben in schnell errichteten Lagern und hausen da unter fürchterlichen Zuständen. Also bilden sich täglich mehr Flüchtlingskonvois, die nur eine Richtung kennen: über den Balkan und Ungarn nach Österreich, Deutschland, in die Benelux-Länder und nach Schweden. Hier“ und nun zeigt er mit den Fingern auf die Linien, „verlaufen die wichtigsten Routen. Wir nehmen an, dass sie sich zur Zeit vorwiegend in Ungarn sammeln, um von dort aus nach Deutschland zu ziehen.“

Damit ist M nun auf seiner politischen Landkarte angekommen, die seine Arbeit für die nächste Zeit bestimmen wird. Er fühlt sich ministeriell bestätigt:

„M gewinnt wieder an Selbstvertrauen, weil er sich in eine präventive Politik eingeweiht fühlt. Seine Urlaubsreise hat ihn zum Zeugen gemacht, von dem eine erhöhte Sensibilität für anstehende Weichenstellungen erwartet wird. Aus dieser Rolle ist politisches Kapital zu schlagen. Instinktiv stellt er eine Verbindung zur aktuellen parlamentarischen Arbeit her. „Wie Sie wissen,“ trägt er vor, „werden wir in dieser Woche eine Armenienresolution verabschieden, die den türkischen Machthabern gar nicht gefallen wird. Verspielen wir damit nicht Möglichkeiten, auf den türkischen Staat Einfluss zu nehmen?“
Sein Gesprächspartner nickt bedächtig und meint: „Sie gehören zum Parlament. Die Resolution des Parlaments macht Sinn. Als Regierung könnten wir aus vielerlei Gründen ein solches Statement nicht abgeben. Sie haben Recht, unsere Position gegenüber der Türkei wird sehr schwierig werden.“ Nach einer längeren Pause fügt er hinzu: „Gut, dass wir uns getroffen haben.“

M findet im Büro einen Brief von Madame an eine Kollegin, in dem sie schwere, auch charakterliche Vorwürfe gegen M erhebt. Sie ist in dieser Zeit beim Bundestagspräsidenten, wo die Feinheiten der Formulierungen für die Armenien-Resolution erörtert werden. Es muss zum Bruch kommen:

„M ist schockiert. Einen Augenblick lang überlegt er, ob er den Brief wieder im Stapel verschwinden lassen oder ihn an sich nehmen soll. Er nimmt ihn an sich und legt ihn in seine Schreibtischschublade, als sei der Brief dort vor dem Postweg sicher. Nur ein Wort rast in seinem Kopf: Entlassung. In ihm ist der Bruch mit Madame vollständig. Er fühlt sich überrannt, die unangenehmste Gefühlslage, die er kennt. Wie es weitergehen soll, weiß er nicht. Am Nachmittag sitzt er in der Fraktionssitzung, stumm und innerlich abwesend. Um 18.30 Uhr ist er wieder im Büro. Schatz ist bereits gegangen, Madame sitzt noch an ihrem Schreibtisch.
„Machen wir es kurz,“ knurrt er sie an, „ich kündige Ihnen sofort und fristlos.“ Ohne Madame anzuschauen, setzt er sich in seinem Zimmer an seinen Schreibtisch, kramt den Brief hervor und legt ihn vor sich. Madame reagiert eine Zeitlang gar nicht. Schließlich kommt sie rüber, blass und unsicher in der Stimme: „Was soll das?“ M braust auf, reist den Arm mit dem Brief in der Hand weit nach oben. „Ich bin Ihnen keine Begründung schuldig. Dieses Papier ist Grund genug.“ Madame ringt um Fassung, versucht zu ahnen, um was für ein Papier es sich handeln könnte, merkt, dass es ihr Brief ist und stammelt kleinlaut: „Sie schnüffeln also in meinen Privatsachen.“ M schreit zurück: „Verlassen Sie mein Büro und lassen Sie sich hier nie wieder blicken.““

Doch die Rechnung von M geht nicht auf. Madame verlässt nicht den Bundestag. Sie wird vom Bundestagspräsidenten als Wissenschaftliche Mitarbeiterin angestellt. Die beiden werden ab nun das rationale Gegengewicht gegen der irrationalen Instinktpolitik von M sein. Der Arbeitsauftrag für Madame wird einfach beschrieben:

„Das Büro des Bundestagspräsidenten betritt Madame mit Herzklopfen, aber auch mit dem Gefühl, dass sie diesen Raum nicht niedergeschlagen verlassen wird. Der freundlich charmante Mann begrüßt sie fast ein wenig unterkühlt. „Kommen Sie, ich habe nur wenig Zeit. Ich will die Einzelheiten nicht wissen, warum Sie entlassen worden sind. Wenn Sie keine formalen Fehler gemacht haben, dann werde ich Sie einstellen. Einzelheiten klären Sie mit meinem Büro. Ich habe für Sie eine Aufgabe, die Sie weitgehend alleine lösen müssen, jedenfalls werde ich als Ihr Arbeitgeber nur selten in Ihrem Gesichtsfeld erscheinen. Ich möchte, dass Sie mir eine umfassend recherchierte und gedanklich klar strukturierte Orientierungshilfe ausarbeiten, wie wir in unserem Land mit dem wachsenden Problem der politischen Gewalt umgehen sollen. Ich meine sowohl die Gewalt im Umfeld islamistischer Herkunft als auch die Gewalt an den nationalistischen Rändern unserer Gesellschaft, die sich die Ideologie des Völkischen auf die Fahnen schreiben. Würde Sie das interessieren? Ich traue Ihnen das zu.“

M erlebt den Bruch mit wilden Vorahnungen. Wüste Bilder ziehen im Halbschlaf durch seinen Kopf. Er verliert die so sehr ersehnten Haltegriffe für die Arbeit, die vor ihm liegt.

„M sieht aus dem Fenster auf andere Fenster, dazwischen Bäume, die zu grünen beginnen. Er ist eingeschlossen in einer statischen Welt, in der neben der Tür gestapelte Kartons davon zeugen, dass er einem anderen Menschen die Tür gewiesen hat. Er lebt in einem Käfig, in dem es keine klaren Gedanken gibt, was er mit seinem Leben machen soll. Ihm fehlt jemand, der seine Seele erreichen kann. Er lebt in seiner Einsamkeit.“

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