Begleitung ins Aus

Aus politisch protokollarischen Gründen hätte die Geschichte hier schon zu Ende sein können. Doch dann wären die Tiefen der Persönlichkeit noch nicht ganz ausgeleuchtet gewesen, die zum Zusammenbruch im Parlament gehören. Der entstandene Aufschrei im Parlament wird nur kurz ausgemalt. Ein alltägliches nichtssagendes Horoskop, das M am nächsten Tag in einer Zeitschrift – nicht in einer Zeitung – liest, zeigt die Richtung an, in die sich nun der Roman bewegt:

„Es tröstet ihn, wie Unsichtbares bewirken kann, was mit ihm geschehen ist. Ein wenig lächelt er über die Beschreibungen, die von Menschen stammen, die ihn doch gar nicht kennen, aber das Große und Ganze auch seines Lebens aus dem Gang der Planeten zu erahnen wissen. Harmoniebrüche werden ihm zugeordnet, nicht unbedingt Katastrophen. Verwicklungen in seinem Leben seien Folgen seiner mangelnden Kompromissbereitschaft, wird behauptet. Dieser Mangel bricht sich diesem Monat Bahn.“

M bittet seine Wahrsagerin um einen gemeinsamen Spaziergang. Gemeinsam fahren sie in der S-Bahn raus an die Havel, in den Park Glienicke. Die Wahrsagerin hat die Schockwellen sehr genau wahrgenommen, die M in den letzten Wochen gebrochen haben. Sie nutzt den sommerlich warmen Tag. Nun wird sie die starke Frau, die es versteht, M in ihren Bann zu ziehen:
„Sie gehen ohne Mühe über das leichtwellige Land, überlassenen sich den Wegen mit den weiten Sichtachsen des Parks. M nutzt den Begriff der Romantik nicht in seinem Leben, entzieht sich aber nicht der Suggestion, in die Mystik hineingezogen zu werden, an diesem Ort im wahren Arkadien zu sein. Das Sonnenlicht, das durch die Kronen der Bäume scheint, bricht sich in kaleidoskopischen Farbenspielen. Auf dem Waldboden tanzen die Schatten wie Feen. M wartet, dass ihm Zeichen der Sterne angetragen werden. Doch die Astrologin redet nicht von den Sternen. Sie erzählt allerlei Geschichten, wie sich hier im Laufe der Zeit alles so gefügt hat, wie es jetzt zu erleben ist.“

Der Park mit seinem Schloss ist auch voller Geschichten über den dem Okkultismus ergebenen Preußenkönig Friedrich Wilhelm II., intuitiv verehrt im Geschichtskästchen von M. Geradezu im kleinbürgerlichen Idyll wirft die Wahrsagerin ihr Netz über M aus:
„Sie waren von Norden zur Havel wandelnd wieder kurz vor der Rückseite des Schlosses angekommen. Da gab es einen künstlichen, mit Ziegelmauern eingefassten, mystisch anmutenden Raum, keine Kirche, aber mit einer Rundmauer am Kopfende, die wie eine Apsis einer Kirche angelegt war. Innen schmückten Skulpturenfragmente  den Raum und verliehen ihm eine feierliche Ausstrahlung. M ließ sich von diesem Ort gerne in den Bann ziehen, als sie sich davor auf eine Bank setzten.  Die Wahrsagerin hatte einen Picknickkorb mitgebracht. In ihm waren unter einem Tuch Schrippen, ein paar Tomaten, Käse, Oliven, eine Flasche Wein und eine Flasche Wasser sowie Teller, Besteck und Gläser. Das alles breitete sie zwischen sich und M auf der Bank aus. Tiefe Ruhe und Wärme durchströmte den frühen Nachmittag, es war völlig windstill im warmen Licht. Sie waren die einzigen Gäste weit und breit.“

Ausführlich wird nun ein politisches Ränkespiel erzählt zwischen der Mätresse Gräfin von Lichtenau, den zwei üblen Ministern aus der Rosenkreuzliga, der auch der König angehört, und den reaktionären Dekreten, mit denen der König die zarten Blühten der Aufklärung zertritt. Alles ist in diesem Spiel Macht, und jedes Mittel der Irrationalität ist darin recht, weil der König an die tiefere Wahrheit des Okkultismus glaubt.  Beiläufig erfährt M, wie der König, wohl unter Drogen, der Inszenierung einer Seance unterliegt, in der ihm die Stimmen seines Urgroßvaters, dem großen Kurfürst, des römischen Kaisers Marc Aurel und des Universalwissenschaftlers Gottfried Wilhelm Leibnitz hört. Der Spuk endet in einer Grotske des preußischen Zeitalters:
„Sie schnalzen mit den Fingern, und voller Ergebenheit kommen Diener und verwandeln in kürzester Zeit das Belvedere in einen lichtdurchfluteten Märchenraum voller Kerzen auf prächtigen Leuchtern. Auf dem Tisch stehen Pokale und guter Wein, weitere Diener stehen zu Diensten an den Rändern des Raums, von der Leinenwand ist keine Spur zu sehen, und auch kein Apparat dahinter verstellt den Glanz für einen genussreichen Abend des Herrschers in seinem geheimen Kabinett. Der Schlaf des Königs dauerte nur wenige Minuten. Tief ergriffen lässt er sich wieder auf die Füße stellen. Die Ergriffenheit sieht er auch in den Augen seiner beiden Freunde, die ihm nun noch einmal bestätigen, was auch sie gehört haben. Der König ist noch voller innerer Aufwallungen, und schreckliche Ängste packen ihn, unterbrochen von Augenblicken der Freude, dass er dieses zu erleben auserwählt worden ist.“

Die Wahrsagerin walzt nun noch weiter die Spiele mit der Gläubigkeit des Königs an die okkulten Kräfte des Überzeitlichen aus. Dazu dient ihr der Tod des Lieblingssohns des Königs, den er mit der Gräfin hatte. Die Gräfin verstand es, ihren Geliebten aus den Fängen der Minister zu befreien und als letzter Mensch ihm nahe zu bleiben, wenn auch ohne persönlichem Erfolg. Die Spiegelungen mit dem Zustand von M sind beabsichtigt. Beiläufig wirft nun die Wahrsagerin den Köder aus, sicher, dass M zuschnappen wird:
„Am späten Abend des 16. November 1796 stirbt der König, wenige Stunden, nachdem man die Gräfin aus dem Zimmer verwiesen hatte.  Bereits am nächsten Morgen wird der neue Herrscher die Gräfin verhaften und unter Anklage stellen. Sie soll geheime Staatspapiere entwendet und sich unrechtmäßig bereichert haben. Sie soll den verstorbenen König mit falschen Einflüsterungen politisch beeinflusst haben. Das wurde in langen Prozessen alles widerlegt. Aber das Leben der Gräfin unter der Sonne war mit dem Tod des Königs beendet.
Die Wahrsagerin weiß, dass M nur bedingt zugehört hat, dennoch im vollen Genuss des Sommeraugenblicks mit ihr auf der Bank ihrer einschmeichelnden Stimme gerne gelauscht hat. Die vielschichtigen Zusammenhänge hatte er nicht weiter verfolgt. Familienklatsch aus den Königshäusern interessierte ihn eigentlich nicht. Die Preußische Geschichte war aus seiner Sicht Vergangenheit. Seine Zuneigung zu diesem König hat andere Gründe. Das weiß die Wahrsagerin. Sie schaut M von der Seite an, der mit halbgeschlossenen Augen in die sonnendurchfluteten Baumkronen blinzelt. Sie wartet, völlig sicher, dass M die eine Frage stellen wird. Das dauert eine Zeitlang, in der die Wahrsagerin langsam die Picknickreste wie zum Aufbruch von diesem Ausflug einsammelt. Sie will sich schon erheben, als M sie mit dem Arm sanft zurück auf die Bank drückt und er langsam, sehr leise fragt: „Welchen Trunk haben die beiden dem König verpasst?“ Die Wahrsagerin hatte ihn. Sie spielte, tat überrascht, als müsse sie um viele Ecken denken: „Genau wissen wir es nicht. Aber diese Unterstützung der Traumwelt kam oft zum Einsatz bei Seancen in gehobenen Kreisen und wurde ganz besonders bei den mystischen Sitzungen der Rosenkreuzer gerne verteilt. Sie nannten das Gebräu Diavolino. Neben uns unbekannten Kräutern waren in ihm auch geriebene Pilze der berauschenden Art.“ Sie macht eine kurze Pause, und bevor sie aufstand, sagt sie bestimmend: „Komm am Freitagabend um 19 Uhr zu mir und bring viel Zeit mit.““

Den fast schon extrem märchenhaften Erzählungen der Wahrsagerin muss im Roman nun eine Person gegenübergestellt werden, für die helle Rationalität der Maßstab für öffentliche Verantwortung ist. Aufgrund der Anlage des Roman eignet sich dafür keine mehr als Madame, die ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiterin. Erst jetzt gewinnt ihre Arbeit Konturen, weil sie als schlüssiger Prozess dargestellt wird, aus dem politisches Handeln entstehen sollte. Madame wird der Gegenpol zu M, die ideale Personifizierung der Rationalität.
„Es hat sie nie gestört, dass M konservativ ist, sich als Konservativen bezeichnet. Konservativ ist ihr neuer Chef auch, jedenfalls in grundsätzlichen und Werte bezogenen Fragen. Aber über dessen politische Logik und über dessen kommunikative Qualitäten verfügt M nicht. Alles Politische von M, so die Analyse von Madame, beginnt in seinem Ego und endet dort. Sie hat beobachtet, wie M auf die steigende Zahl der Flüchtlinge reagiert. Die Moderne ist bei ihm nicht angekommen. Schlimmer noch: Er stellt ihr etwas Statisches entgegen, das in der Entwicklung der Gesellschaft zur langfristigen Polarisierung führen muss. M kann Politik nur als die ausgrenzende Einheit von Staat und Bevölkerung denken, eine Verengung, die das Volk als stärksten Verbündeten eines für Diskurse blinden, aber starken Staates verherrlicht.“

Um auch die dritte Mitspielerin in dieser Skalierung zu charakterisieren, wird Schatz in ihrer privaten Spielrunde beschrieben. Jäh wird das Spiel durch die Polizei unterbrochen, eine -  wie sich später zeigt - falsche Verdächtigung. Schatz, die Sekretärin, ist am Boden zerstört. Die Szene markiert die Mischung aus Rationalität und Irrationalität:
„Für Schatz bleibt das Chaos im Zimmer zurück. Sie wirft sich auf ein Kissen und weint bitterlich. Ihre Verletzung wird nicht weniger, Scham zehrt an ihr, und auch Wut fängt an, in ihr zu kochen. „Das darf doch alles nicht wahr sein“, versucht sie sich Halt zu geben.  Was steckt denn nur hinter so einer Geschichte, die sie gerade getroffen hat? Eine Antwort will sich nicht einstellen. Sie muss mit jemandem reden.“

So kommen Schatz und Madame durch äußeres Schicksal verursacht wieder zusammen. Die kleinen Nebenszenen im Roman eignen sich dazu, aus einer ständig anderen Perspektiven einen Lichtkegel auf M zu werfen, ohne dass deshalb Folgen für die Dramaturgie des Fortgangs der Geschichte zwingend sein müssen:
„Madame setzt ihr gütigstes Gesicht auf und neigt sich schwesterlich ein wenig nach vorne, Schatz entgegen. Mit tröstender Stimme sagt sie: „Nimm das nicht zu schwer. Das wird sich alles schnell klären. Da musst du keine Angst haben. Sollte irgendjemand versuchen, eure Geschichte in Verbindung mit deiner Arbeit hier bei uns zu bringen, dann kannst du sicher sein, dass ich alle Hebel in Bewegung setzen werde, dich, uns zu schützen. Entweder hat sich jemand einen üblen Scherz mit euch ausgedacht oder er wollte dich wissentlich schädigen. Aber ich kenne dich, an der Geschichte ist nichts dran. Vielleicht gibt es da jemanden, der von eurem Spielkreis gewusst hat, der sicher sein konnte, dass ihr euch gestern Abend getroffen habt, und der euch diesen üblen bösen Streich spielen wollte.“ Madame macht eine länger Pause, denkt nach und starrt in das Gesicht ihrer Kollegin: „M vielleicht?“ Schatz zuckt erschrocken auf, völlig irritiert: „Um Gottes Willen, der weiß doch gar nichts über mich.“ Dann fällt sie in sich zusammen, aufs Neue tief erschrocken. Sie versinkt ins wieder aufziehende Elend, den Tränen nahe. „Wenn überhaupt, kann die Intrige nur aus dem Umfeld unseres Mitspielerkreises kommen, eine fürchterliche Vorstellung, die alle Freundschaft zerstört.““

Ein längeres Gespräch über M ergibt sich wie von selbst. Man könnte es als einen Versuch bezeichnen, seine Tugenden und Untugenden zu erkennen, die jenseits seiner politischen Eigenschaften seine Persönlichkeit kennzeichnen. Madame wird feststellen, sie seien untauglich für einen Parlamentarier. Schatz sieht ihn eher als einen freundlichen, stets bemühten Menschen. Daraus ergibt sich eine Überleitung, die dann für die letzten Kapitel des Romans zunehmend an Bedeutung gewinnen:
„Madame erhebt sich. Bei der Verabschiedung meint sie beiläufig: „Ich gebe dir einen Rat. Versuche doch, M davon zu überzeugen, sich hier an seinen Schreibtisch hinzusetzen, um seinen Lebenslauf aufzuschreiben, eine Art Autobiografie. Ich glaube, das würde ihm helfen. Ich werde dir morgen ein paar Blätter aus meinen Recherchen vorbeibringen, kurze Lebensläufe von Migranten in unserem Land. Die kannst du ihm als Vorlage zum Lesen geben. Ich glaube, sein Lebenslauf gehört dazu.“ Schatz hört kaum richtig hin. Was soll das? Sie fühlt sich jetzt besser und ist dankbar, dass Madame sie besucht hat. Aber das ständige Kreisen um ihren Chef behagt ihr überhaupt nicht.“

M in einer Rolle des Alsob: Was kann er mit dem Gespräch der beiden anfangen, wie würde er sich selbst in ein solches Gespräch einbringen? Die Abschnitte über sein Selbstbild bleiben hypothetisch, sollen aber dem entsprechen, was der Roman bis hierhin über ihn erzählt hat. Deshalb wir M auf dem Weg von Madame zum Einsteincafé Unter den Linden ihr imaginärer Begleiter. Die beiden führen einen imaginären Dialog, in den die Sehenswürdigkeiten rund um das Brandenburger Tor eingebettet sind. Auch hier sind die literarischen Mittel entscheidend. Manches ist fast satirisch, anderes todtraurig.  Die Szene endet mit einem schändlichen Anschlag eines Rechtextremisten auf einen Rabi vor dem Otto-Wels-Haus, der eine Gruppe israelischer Touristen durch Berlin führte. Die Symbolik erfasst in wenigen Sätzen das ganze Unheil von Geschichte und Gegenwart, zeigt aber auch die Grenze auf, hinter der die Menschlichkeit das letzte Wort hat:
„Langsam drängt sich Madame ihren Weg durch die ratlos erschütterte Menge hindurch an die Absperrung. Vor sich sieht sie den alten Mann, 70 Jahre alt soll er sein, wie sie von einer Nachbarin zur Rechten erfährt. Er steht an die Mauer gelehnt, die Wunde auf der Stirn ist bereits mit einem breiten Pflaster verdeckt. Seine wenigen grauen Haare hängen strähnig über der Stirn, helle Augen bewegen sich flink, als suchten sie Halt in der Menge, die sein makabres Publikum geworden ist. Ein Lächeln liegt um seine Lippen. Rechts und links halten zwei Frauen seine Arme und streicheln ihn, die Köpfe zum Boden geneigt, beschützen ihn. Vor ihnen vermessen zwei Polizisten erregt die Bodenplatten auf dem Bürgersteig, zwei weitere Polizisten stehen an der Absperrung und halten die Menge auf Abstand. Madame spürt, wie allein sie ist. Hier gibt es keinen imaginären M an ihrer Seite. Sie hört die Frau neben sich schluchzen. Sie ist kaum älter als sie. Madame legt ihren Arm sehr vorsichtig um ihre Schultern. Wenige Worte wechseln sie. Madame erfährt, dass die Frau zu der Gruppe aus Israel gehört, die der Rabbi durch Berlin geführt hat. „Er ist ein so gütiger Mensch.“ Etwas später: „Wie können solche Fanatiker mit sich ins Reine kommen? Was haben wir ihnen getan? Warum gibt es Menschen, die immer wieder auf uns einschlagen?“ schluchzt sie. Madame kann keine Worte finden. Sie spürt, wie jede Vernunft aus ihrem Kopf gewichen ist. Ihr Arm um die Frau neben sich wird fester. Sie drückt die Fremde an sich, legt ihren Kopf auf ihre Schulter. In ihren Augen hat sie Tränen. Bis ins Café Einstein sind es nur wenige Meter. Sie hat vergessen, dort eine Verabredung zu haben.“

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