Anfang und Ende des Dritten Weges

Noch einmal steht der Bundestag im Mittelpunkt des Geschehens. Politisch spitzt sich die „Flüchtlingskrise“ zu. Nach den Ausführungen in den vorigen Kapiteln ist es eigentlich nicht möglich, das Entstehen rechtsextremer Wirkungskreise aus der Logik des Fluchtgeschehens zu erklären. Die politische Ausbeutung von Angst vor den „Eindringlingen“ durch die erstarkte AFD und ihren Helfershelfern motiviert M, eine politische Orientierung zu finden, in der ein starker Staat das Land vor zu vielen Flüchtlingen schützen, zugleich die Ausbreitung des Rechtsextremismus stoppen soll. Er entfernt sich von den Fraktionsvorgaben seiner Partei und stilisiert sich zu einem Politiker eines dritten Weges. Mit seiner Zentrierung auf seine Person und seiner Unfähigkeit zu einer politischen Kommunikation scheitert er. Seine parlamentarische Karriere geht zu Ende und die Grundlagen seiner politischen Existenz zerbrechen.

Seine tatsächliche politische Ausgangslage erkennt M am Anfang dieses Kapitels durchaus realistisch:
„Trotz aller Schwierigkeiten in den letzten Tagen sieht er sich selbst immer noch als einen großen Politiker. Blickt er jedoch von außen auf sich, schrumpft er und ist kaum mehr wahrnehmbar. M registriert in diesen Sitzungswochen, dass die Rolltreppen ihn überwiegend nach unten befördern. Er eilt durch die Gänge der Gebäude des Deutschen Bundestages, sucht hilflos Blickkontakte zu Kolleginnen und Kollegen, die den kaum erwidern. In seinem Büro ist die Luft dünn. Die großen Herausforderungen, die in ihm wühlen, finden keine Resonanz, bewegen nicht.“

Auf der einen Seite konzentriert sich M vollständig auf sein neues politische Thema, die Flüchtlinge und die Sammlung der Rechten rechts von seiner Partei, die vor allem im Osten der Republik sichtbar wird. Auf der anderen Seite pflegt er seine stark eingeschränkte Geselligkeit einzig mit dem Ziel, Unterstützung für seinen politischen Weg zu finden. Gegenüber Schatz stöhnt er geradezu auf:
„Sie sammeln die Gelder des Bundes, der Länder und der Kommunen, um die Flüchtlinge unterzubringen und weitere ins Land zu holen. Das darf doch nicht wahr sein. Das wird uns allen um die Ohren fliegen. Das sind Probleme, die kann man nicht mit Geld lösen.“

Statt den Diskurs mit seinen parlamentarischen Kollegen zu suchen, wählt sich Schatz als Sparringspartnerin für seine neue Politik aus. Sie verkörpert für ihn die „einfachen Leute“. Die will er verstehen, um sie als Kapital seiner Politik ins Feld führen zu können – eine Umschreibung für Populismus in der Demokratie:

„Sein Weg soll sein: Er will die einfachen Leute für sich gewinnen, bevor sie in dem neuen Hafen der Rechten heimisch werden. Das wird nicht in der Allianz mit seinem Fraktionsvorsitzenden gelingen, nicht unter dem Schirm des humanistischen Präsidenten des Parlaments, nicht mit der Taktik der sedierenden Bundeskanzlerin. Eine neue Grundhaltung seiner Partei muss geschaffen werden. Die will er sich erarbeiten. M soll der Garant und die bekannte Person werden, diese neue Grundhaltung zu ermöglichen. Das wird ihn in Schwierigkeiten bringen, wie er weiß. Aber das Ziel kann ihn auch groß machen, ihm die Aufmerksamkeit zuführen, nach der er sich so sehnt.“

Als Plattform der Verkündigung seines dritten Weges sucht sich M eine Sitzung des Innenausschusses aus, auf die sich vorzubereiten ihm knapp zwei Wochen Zeit bleiben. In dieser Zeit will er die Mentalität in den neuen Bundesländern erkunden, die ihm Hinweise auf das neue Rekrutierungspotenzial der Rechten zu geben versprechen. Sein Weg der Recherchen wird ausführlich beschrieben. Dabei wird gezeigt, dass er stets mit unbegründeten Hypothesen arbeitet nach der Methode einer selffulfilling prophecy. M kommt der Zeitgeschichte durchaus nahe, kann aber ihre Komplexität nicht begreifen. Der erstarrt in Klischees:
„Alles, was heute so aktuell geworden sei, sei dem Worte nach damals schon seit den Nachkriegszeiten im westlichen Deutschland in den Köpfen der alten Rechten fest verankert gewesen, meinte M. Die Heimat habe sich zu ihrem zentralen Kampfbegriff gemausert, die Heimat in Gefahr, bleibe auch heute ihr geheiligtes Mantra. Ihr Deutschland, so ihr Traum, sollte wieder rein sein, allein den Deutschen gehören. „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus.“ Seit die Flüchtlinge ins Land kommen, seien sie mit dieser Parole anschlussfähig für viele geworden, die mit den Nazis eigentlich nichts am Hut hätten. So konnten sie brüllend aus den Nestern kriechen und sich mit vielen Deutschen vereinen, die ähnlich fühlten, sich aber empörten, wenn man sie als Rassisten oder Nazis anprangerte. „Viele von diesen alten Rechten sind jetzt die Führungsgestalten der neuen Rechten in eurer alten DDR“, fügte M mit erhobenem Zeigefinger seinem Geschichtsunterricht zu. „Und sie fischen jetzt im Teich, in dem unsere Partei ihre Karpfen hat.““

Es ist aber die Absicht dieses Kapitels, gerade durch tiefer gehende Recherchen die Komplexität nahe zu legen, die das Erstarken der rechten und populistischen Kräfte in Deutschland verständlicher macht. Durch dieses Verfahren werden die Grenzen von M gleichsam romanimmanent deutlich markiert. Sein Ansatz ist nicht verwerflich, aber seine vorschnelle Schlussfolgerung politisch nicht haltbar:
„Dass die AfD in so kurzer Zeit mit ungeahnter Geschwindigkeit vor allem in der ehemaligen DDR wachse und die Parlamente zu fluten drohe, sei die Folge des Versagens der alten Parteien, mit den Nöten der einfachen Menschen richtig umzugehen. Flüchtlingspolitik, so denkt M, müsse eine Politik werden, die einfachen Leute vor der Vereinnahmung durch die AfD zu bewahren. Mit Migration im Land und mit Flüchtlingen, deren Zahl seit Jahren in ungeahntem Ausmaß wuchs, hatte sich M in seinem Leben nur wenig beschäftigt.“

Die Darstellung in diesem Abschnitt wechselt deshalb ständig zwischen den Arbeitsetappen von M und ergänzenden Informationen aus den zusätzlichen Informationen über einzelne Hypothesen in seiner Arbeit. Möglich wird das, indem ausgewählte Ereignisse aus den vergangenen Jahren ausführlich in Erinnerung gerufen werden, mit denen der emotionale Aufstand gegen Flüchtlinge seine tiefen Spuren der Mobilisierung der Rechten hinterlassen haben.

Bewusst wird eine Grenze markiert, an der M nahe an einer tragfähigen Einschätzung der gesellschaftspolitischen Entwicklung in Deutschland angekommen zu sein scheint. Nach all den Berichten, die ihm Schatz zusammengestellt hat, heißt es:
„M hat das alles gelesen und ist sich sicher, der politische Ansatz müsse sein, dass man Terrorismus Terrorismus nennt. Ihn muss man bekämpfen, um die Bevölkerung zu schützen. Seine Politik nimmt den Staat in die Pflicht. Der habe die Aufgabe, die Bevölkerung vor denen zu schützen, die Gewalt zu ihrem Handwerk machen. Die Angst der Menschen vor den Fremden ist zu respektieren. Sie ist ein Fakt. Die Menschen gehören zu seiner Partei. Verliert man sie, dann liegt es an der Partei. Sie habe versagt, weil sie es den Menschen so leicht gemacht habe, gemeinsame Sache mit den Terroristen zu machen. Weil die Partei nicht erkenne, dass Terrorismus auch von rechts möglich sei, habe sie versagt. Die Angst vor den Flüchtlingen muss verbunden werden mit der Angst vor dem Terrorismus, komme er von den Islamisten oder komme er von den Rechten. Das soll sein dritter Weg der Politik werden. Er weiß, mit seiner Ehrlichkeit, Täter als Terroristen zu bezeichnen, ist er allein auf weiter Flur. Das hat er ja bereits vor wenigen Wochen erfahren müssen. Rostock, so vertraut er seiner Kladde an, ist nicht der Anfang seiner Beweise für den neuen Terrorismus in Deutschland. Die verlorene „Schlacht in Lichtenhagen“ verbucht er auf einer Kette zeitlich in engen Abständen stattfindender „Gefechte“, die der Staat, so seine Sicht, alle verloren hat.“

Nun muss erklärt werden, warum M mit diesem Ansatz im Parlament scheitern wird. Schatz stellt ihm viele Informationen über die neuen Führer zur Verfügung. Noch einmal kommt er einen wichtigen Schritt weiter:
„M sortiert die Informationen neu für sich. Wie entsteht die anschwellende Massenbewegung im Lande von rechts? Wie passt das zusammen, wenn sich Menschen als besorgt empfinden und denen lauschen, die jung, robust und pathetisch den rechten Sound beisteuern? In seine Kladde notiert er: „ Tapsen wir vielleicht in die Falle, wenn wir ernsthaft glauben, dass Besorgtheit und rechte Heilsbotschaften so gut zusammenpassen? Laufen die Leute nicht eher deshalb auf die Straße, weil sie Macht wittern, deren Drecksarbeit aber andere zu erledigen haben? Brüllt man nicht einfach raus, was in einem steckt und was aus Anpassungsdruck ständig unterdrückt wurde? Sind die Rechten stark geworden, weil sie die richtige Begleitmusik gefunden haben? Oder werden die Frustrierten so stark, weil sie endlich ihre Führer finden?“ M  ermahnt sich, dass der Kern für seine politische Positionierung auf eine Seite Papier passen muss.“

Sein dritter Weg wird nun auch zur Kampfansage an seine eigene Partei. Die AfD werde vor allem seine Partei schädigen, weil sie die „Flüchtlingskrise“ mit den Emotionen der Bevölkerung zu verbinden verstehe:
„Mit dieser Feststellung verbindet M seine Prognose, dass die neuen Länder im Osten das dynamische Kraftzentrum für die AfD sein werden. Diese Vorhersage, da ist M überzeugt, wird der Lackmustest für sein politisches Konzept jenseits der Bekenntnisse seines Fraktionsvorsitzenden. Da kommen ihm die in Mode geratenen Phrasen gerade recht, im Osten gäbe es die abgehängten ländlichen Provinzen, dort lebten besonders viele besorgte Bürger, die danach fragen, warum nicht sie sondern die Flüchtlinge im Mittelpunkt der öffentlichen Fürsorge stehen. M versteht die AfD als politische Bewegung, die gerade in solchen Gebieten wie ein Lauffeuer stark werden muss, obgleich es dort doch kaum Ausländer gibt, wo eine Frage ob DM oder Euro kaum eine Seele bewegt. Er muss nur Schatz verstehen, um mit seiner Vorhersage zu überzeugen, dass die AfD über ihre Ostmobilisierung in den neuen Bundesländern zur Herausforderung der demokratischen Parteien, vor allem seiner eigenen, werden wird.“

Recht schnell findet M sein aus seiner Sicht geschlossenes Gedankensystem für seine Politik des dritten Weges:
„In den ersten beiden Maiwochen 2015 brütet M seine neue politische Positionierung im Windschatten seiner Bundestagsarbeit wie ein in die Festung Verbannter aus. Keiner stört ihn, keiner beachtet ihn. Er ist sicher, das Thema Flüchtlinge wird den Dauersound für die nächsten Jahre komponieren. Dafür will er gewappnet sein, früher den politischen Rhythmus für den Sound empfinden als die anderen im Parlament. Er will schneller den Schlüssel zum Handeln finden und vorzeigen, wie die Besorgten wieder einzufangen und zu beherrschen sind. Schlüssel dieser Beherrschung wird das Wort Eingrenzung sein. Kernaussage seines dritten Weges in der deutschen Politik im Mai 2020 wird lauten: Der Zuzug nach Deutschland ist zu begrenzen, um die Menschen nicht zu überfordern und um die sozialen Fliehkräfte zu schwächen. Doch die politische Methode dieses Weges soll menschlich aussehen, muss die fürchterlichen Bilder von ertrinkenden oder im Stacheldraht hängenden Fliehenden verhindern. Deshalb braucht man einen politisch gestalteten Korridor für legale Zuwanderungswege, auf denen Asylanten Deutschland erreichen können. M registriert mit Befriedigung, dass so nahe liegende Einsichten in der Politik seiner Partei kaum zu finden sind. Einst werden sie so denken müssen wie er jetzt. Dann wird man sich an ihn erinnern und an seine Botschaft für die politischen Aufgaben, die er jetzt als seinen dritten Weg in die Fraktion tragen will.“

Nun geht es darum, wie er dieses Konzept erfolgreich einbringen kann. M konzentriert sich dabei auf seinen Auftritt im Parlamentsausschuss. Er ahnt, dass er ohne Rückhalt in seiner Fraktion ist, versucht verschiedene Wege, einzelne Abgeordnete für sich zu gewinnen und erfährt dabei, dass ihn niemand recht ernstnimmt. Schatz bleibt sein einziges Publikum. Die Diskurse auf der anderen Seite laufen anders und bleiben ihm fremd. Eine Veranstaltung des Bundestagspräsidenten mit einem Psychoanalytiker wird als Forum in das Kapitel eingebaut, um auf Möglichkeiten zu verweisen, wie das „Phänomen“ der Rechten in Deutschland zu erklären ist. M empfindet dessen Ausführungen als eine Art Kampfansage an sich. Die Rationalität der Politik bekommt in den Schlussätzen des Analytikers ihre Stimme:
„Als das Auditorium schon die Hände zum Applaus nach oben hebt, winkt er mit ausladenden Armen ab, sorgt noch kurz für Aufmerksamkeit und spricht seine Zuhörerschaft in staatsmännischer Pose an: „Meine letzten Sätze möchte ich als politischer Mensch an Sie richten. Freie Menschen können in einer Demokratie frei die Unfreiheit ersehnen und wählen. Sie sind frei, sich Führern und Diktatoren zu unterwerfen, für Regime auf die Straße zu gehen, die Menschen unterdrücken, verfolgen und töten. Es gibt Ursachen, warum es solche Führer, Diktatoren und Regime gibt. Es gibt auch Ursachen, warum ihnen so viele Menschen folgen und eine Demokratie benutzen, um ihren Führern und Diktatoren die Macht in die Hände zu legen. Diese Ursachen zu erforschen, sie zu kennen und mit ihnen verantwortungsvoll umzugehen, ist der Anfang des Schutzes und tut not, die Demokratie weiter entwickeln zu können.““

Seine Rede im Ausschuss gerät zu einem Fiasko für ihn. Das Ende:
„Obgleich M auf seinem Redezettel noch einige Abschnitte stehen hatte, die seinen dritten Weg mit den drei Kernforderungen überzeugend machen sollten, wird er nun durch Zwischenrufe und laute emotionale Äußerungen so gründlich gestört, dass der Vorsitzende eingreifen muss. M nimmt die Unruhe verwirrt wahr, ist von der Rolle, verliert den Faden des Redens und schweigt. Um die nicht abebbenden Wogen zu glätten, stellt der Vorsitzende kurzer Hand und etwas unwirsch fest, dass der Redner Vorgaben des Antrags verlässt, dass seine Anregungen in einem anderen Rahmen vorgetragen und diskutiert werden müssen. M steht allein im Raum und schaut fassungslos über die Köpfe. Er versteht die Intervention des Ausschussvorsitzenden als Aufforderung, seine Rede zu beenden. M wird es schwarz vor den Augen. Er taumelt und muss sich setzen. Sein Gesicht ist kreideweiß, Schweiß macht die Haut glänzend, er sitzt auf seinem Stuhl, zittert mit weit offenen starren Augen, verkrampft. Er gerät in einen körperlich kritischen Zustand, verliert das Bewusstsein. Nur menschliche Reaktionen auf den Schwächeanfall, den M gerade erlebt, schützen ihn vor verbalen Attacken im Ausschuss. Mit einem schwachen, mit einem angeschlagenen Menschen hat man Mitleid. Dann sind die Reflexe verlässlich, ihm zu helfen, wenn man Zeuge wird. So dauert es nicht lange, dass Sanitäter mit einer Bahre in den Raum stürmen. M kommt nur langsam wieder zu sich, registriert, was mit ihm geschieht, wie hinter einem dicken Nebelschleier. Er wehrt sich nicht, von kräftigen Armen auf die Liege gefrachtet zu werden. Wie er nach draußen getragen wird, kommt ihm das vor wie eine Fahrt im schnellen Zug. Die Gegenwart rast an ihm vorbei und lässt ihn allein zurück in einer Flucht, auf der es immer dunkler um ihn herum wird.“

Seine Karriere im Parlament ist somit am Ende. Noch nicht am Ende ist die politische Persönlichkeit M.

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